Norbert W. Schlinkert
Wundrand oder: Eine Kopfsache
[Gedanken]
Fortlaufende Übertragung der am 12.11.2024 begonnenen handschriftlichen Aufzeichnungen in ein Typoskript
[1] Kennt er die Stirnwunde nur aus Erzählungen, so ist sie doch eine Stirnwunde. Eine eingegrabene Erinnerung in den Kopf. Obgleich der Kopf sich nicht erinnern kann. Oder doch? Die Narbe, die aus der Wunde entstand, steht steil mittig über der Nase. Im Alter ist sie weniger sichtbar als früher, stirnrunzelnd aber noch gut erkennbar. So man es weiß. So man darauf verwiesen wird. Schau mal! Aber ja! Mittig. Eine Wunde war es jedoch nur eine kurze Weile, bald schon trug das Kind eine Narbe. Träger dieser Wunde und dieser Narbe ist ein Kind im Kindergartenalter, das nicht in den Kindergarten hat gehen [2] wollen, der Kinder wegen, die ihm fremd und unheimlich sind. Die Wunde hat das Kind sich selbst zugefügt durch die Kante des in den Türrahmen ragenden Küchenschrankes, des Unterschrankes. Dagegen ist das Kind gelaufen. Sicher hat ein Erwachsener später mit Karacho gesagt, er sei ja mit ganz schön Karacho gegen die Kante gelaufen. Das Kind wurde auf den Armen des Vaters ins Krankenhaus getragen, wo ein Arzt nicht nähte, sondern ein Pflaster aufbrachte, was wiederum den Vater gegen den Arzt und imgrunde gegen alle Ärzte aufbrachte, das Kind aber nicht weiter beeinträchtigte. Sicher hat der Erwachsene, der mit Karacho gesagt hat, ob Mann ob Frau, Onkel oder Tante, mir mit Anerkennung für meine Wildheit über die Haare gestrichen, während mein Vater mit [3] bösen Tieraugen in die Welt starrend sich bereit machte, über die Ärzteschaft als Ganzes zu schimpfen. Herzuziehen. Und wenn dieses Kind einige Jahrzehnte später als erwachsener Mann vor dem Spiegel steht und sich stirnrunzelnd die Stirn ansieht, so entdeckt er nicht nur die Narbe der passgenau zugefügten Wunde, sondern mit der Narbe auch die Harmlosigkeit der Wunde, denn sagt ihm nicht seine Lebenserfahrung, dass die harmlosen Wunden in ihrer Oberflächlichkeit viel eher eine Narbe hinterlassen als tiefere, ernsthafte Wunden, und selbst wenn er mit dieser Erkenntnis falsch läge, so ist ihm heute, als sei das Pflasterauflegen durchaus die einzig richtige Methode gewesen, Endpunkt gewissermaßen einer Fehlerkette, so denkt er heute, von der Planung des Hauses und des Zuschnitts [4] der Räume bis hin zu der Entscheidung, einen eckigen Küchenschrank zu kaufen, der in den Türrahmen ragt. Weil er zu tief ist. Demgegenüber hat das Kind jedes Recht der Welt, mit Karacho durch die zu kleine Wohnung in der Lützowstraße 10 zu sausen, zu jagen, denn ein Kind braucht Auslauf wie ein Hund Auslauf braucht, denn wozu hat es Beine und Augen und Ohren und eine Nase und ein Gehirn, wenn es nicht durch die Welt rennen darf. Und sei es auf die Gefahr hin, gegen eine Spitze Kante zu laufen, die ihm den Schädel spaltet. Und welcher erwachsene Mensch hat denn – bitteschön – keine Narbe, die ihm die Wildheit der Kindheit preist und ins Gedächtnis ruft! [5] Das Pflaster, die Wunde, die Narbe und die felsenfeste Überzeugung des heute Erwachsenen, dass die Mutter gleich dem Arzt auch nur ein Pflaster draufgemacht hätte! Sicher hatte ich Kopfschmerzen, ausgehend von der genau mittig gesetzten Verletzung an genau der Stelle, wo sich das dritte Auge zu befinden hätte, wäre der Mensch mit einem dritten Auge ausgestattet. Ich jedenfalls muss nun in jedem Fall so oder so eine Bedeutung herleiten, und zwar auch, obwohl die Wunde und die Narbe und der kleine Unfall das nicht herzugeben scheinen. [6] Gäbe es dazu keine Familiengeschichte, was hätte ich angesichts der Narbe gedacht? Wäre sie mir, wiewohl am Kopf ständig sichtbar, überhaupt ins Bewusstsein geraten, beziehungsweise darin verblieben? Und ist es nicht bezeichnend, dass ich später davon (wieder?) erfahren habe über den Umweg der Ärzte-Beschimpfung, die mein Vater bei jeder Gelegenheit anstimmte? Dabei bin ich ja nicht entstellt durch die Narbe, ganz im Gegenteil, denn sie ist ja immerhin schön mittig. Aber hat sie Potential für eine literarische Erzählung? Gute Frage. Antwort: eher nicht, wenngleich dies schon ausgeführt ist, irgendwo, der aufmerksame Leser wird’s wissen. Eingewoben in eine Textur ist die Narbe jedenfalls gut vorstellbar, auch in Verbindung mit dem „Dritten Auge“, das ja bekanntlich bei einigen Tieren Helligkeit erkennt, mehr aber auch nicht, da es mit Haut überzogen ist. Aber wie sollte solch ein Narbentext aussehen, welche Form soll er haben? Der Inhalt [7] muss wie gewöhnlich von alleine kommen, Stoff ist ja untergründig genug da und außerdem reicht auch wenig Stoff und wenig Inhalt, um einen guten Text zu schreiben – siehe „Melancholie“ von Jon Fosse, der allerdings mit Reduktion und Wiederholung arbeitet, und zwar im besten Sinne rücksichtslos. Interessant übrigens an „Melancholie“ und vor allem auch „Heptalogie“ ist, dass in beiden Romanen Maler malen, die immer etwas, so heißt es, wegmalen müssen, während ich in nicht wenigen meiner Texte quasi feststehende Bilder erschaffen wollte. Der Roman „Der Bildermacher“ ist ja sogar genau darauf ausgerichtet, nur dass ich (damals) literarisch nicht zu einem guten Ergebniss gekommen bin, was sicher Anfängerfehlern geschuldet ist. Das Gleiche gilt für den (verschollenen) Roman bzw. Kurzroman „Einsamkeiten“ (ca. 1993), der sogar noch schlechter war. Und auch die meisten der gemalten Bilder von damals [8] waren ebenso schlecht wie die geschriebenen. Und heute? Malen kann ich gar nicht mehr, Schreiben aber kann ich. Bilder schreiben – wobei es sicher gut ist, handschriftlich vorzugehen, mit Schwung und Pigmenten. Im Handschriftlichen ist auch dem Umstand in gewisser Hinsicht zu entgehen (es sieht eben nicht aus wie gedruckt), dass eine Veröffentlichung auch eines gelungenen Textes sehr unwahrscheinlich ist. Die drei vollen Archivboxen in der Ecke sprechen Bände, und eine weitere Box sollte kein Problem sein, da ist noch Platz nach oben. Es fehlt aber noch der Anfangsfunke für einen neuen Text, worauf dann Zeit vonnöten ist, regelmäßige Zeiten, in denen ich am Text arbeite. Noch sehe ich das nicht, allerdings entdecke ich eben auf dem Rechner einen kaum zwei Wochen alten, aber schon wieder vergessenen Text: „Treffen / Zwei / Sich“. Drei Seiten, ein Anfang ähnlich wie bei „Kein Mensch scheint ertrunken“, „Tauge / [9] Nichts“ und „Nebelleben“. Also „Treffen / Zwei / Sich“ – ich werde auch diesen Text, das Manuskript, irgendwann abtippen (Heft II). Den Untertitel „Eine Wüstenei“ habe ich aber bereits gestrichen, er wird zum Titel des ersten Abschnitts / Bildes. Unwillkürliche Erinnerung: Ring of Kerry, die freundliche Tramperin, die Schlossanlage, der Garten am Meer. Wobei dieses Erlebnis des Herumwanderns dort wie so Vieles in einer Art Dunst erscheint, denke ich daran, doch das sind meist sogar eher gute Erinnerungen, schöne, die aber auf jeden Fall immer auch zusammenhängen mit dem Jungsein als eines Zustandes. Die einzelnen Bilder oder Bilderfolgen sind eher zufällig. Fotografien von meinen Reisen besitze ich allerdings ebensowenig wie Tagebuchaufzeichnungen (mit einer frühen Ausnahme), so dass allein etwa die damals benutzten Straßenkarten Erinnerungen auslösen, unscharfe und damit nachzuschärfende. Hier und da taucht [10] trotzdem ein Foto auf, etwa eines auf einem Wochenticket für den öffentlichen Nahverkehr in Dublin, Juli 1990, langes lockiges Haar, gesunde Bräune, kesser Schnäuzer, ein 26 Jahre alter Jüngling, allein in Irland unterwegs und sich seiner Welt und Jugend gewiss. Passend zu all diesen Gedanken habe ich heute Jean Amérys Essay „Über das Altern“ zuende gelesen – es gibt, gab, also doch deutschsprachige Autoren, die die hohe Kunst des Essays beherrschen! Ein eindrücklicher Text, untergründig verschmitzt und dabei den Finger auf jede Wunde legend, fast nichts auslassend und dabei immer auch wie beiläufig mit literarischen Elementen arbeitend, etwa indem er die Figur „A“ vielfältig in Erscheinung treten lässt. Interessant auch, wie Améry die Jugendzeit so en passant links liegen lässt, über die halt nicht viel zu sagen ist, außer dass sie eine [11] Offenheit, eine Zukunft in sich trägt, die unermesslich scheint, allerdings so oder so im Altern sich erschöpfen wird oder im Suizid ihr Ende findet – wie dies im (folgenden) Essay Amérys, „Hand an sich legen“, beschrieben ist, das ich nun folgerichtig lese. (…)