„Ankerlichten“ in Zeiten der Corona (IV)

Seltsames Mit- und Gegeneinander da draußen zu Corona-Zeiten. Wäre das Geschehen ein Krimi, so fragte man sich, wer am meisten von der nun aktuellen Lage profitiert. Dass Einzelne, Firmen, Organisationen und Staaten daraus tatsächlich Profit ziehen, ist allerdings keine Frage, aber auch kein Grund, Verschwörungstheorien zu streuen. Andere wiederum haben den allergrößten Schaden und werden, wie imgrunde Opfer ja ohnehin oft und gerne, vergessen werden. Nach der Corona-Krise ist dann eben Wirtschaftskrise, punktum. Letztens hörte ich im Radio einen Beitrag, in dem es um die Rettung von Tageszeitungen ging und die Frage, ob öffentliche Gelder den coronabedingten Rückgang der Werbung ausgleichen müssten, da sonst ja der kritische Journalismus konkret in Gefahr gerate und damit die Demokratie. Ja, auch da, denke ich, sollte der Staat rettend eingreifend, allerdings stellt sich in diesem Fall die Frage, ob denn nicht endlich auch die Werbeindustrie als tragende Säule der Demokratie anerkannt werden muss, denn wenn Werbung auch in den meisten Fällen zum Konsum von Überflüssigem und Schädlichem verführt und Menschen marken- und konsumabhängig macht, so hat sie doch, so die Botschaft, zugleich die Finanzmittel parat, uns alle vor autoritären Strukturen oder gar einer Diktatur zu retten. Vielleicht, das wird das Beste sein, stimmen wir einfach mal ab.

Nun aber zu Ankerlichten und einem weiteren Ausschnitt aus dem Roman.

AUF DEM HOF

Das Messer hatte Heinrich eines Tages auf dem Schwerter Marktplatz gefunden. Es ist sein einziger Besitz. Oft schnitzt er mit kindlicher Sorgfalt kleine Figuren. Von der Mutter war ihm umständlich und unter Verwendung von Bibelstellen erklärt worden, seine Schwester sei mit den guten Herren gegangen, die ihr die neun Geldstücke gegeben hatten. Doch der kleine Heinrich begriff nicht, um welche Männer es sich handelte. Er konnte sich nicht erinnern. Emilia aber war plötzlich fort gewesen, das begriff er, nur eben nicht, warum sie fort war. Er musste nun allein in den Wald, um Beeren und Wurzeln zu suchen, so viel Angst er auch haben mochte. Weinte er, so schlug die Mutter ihn mit der linken, der heilen Hand, doch waren diese Schläge ungenau und weichlich. Auf die Idee, statt der rechten für alle Verrichtungen die linke Hand zu benutzen und so geschickter zu machen, kam sie nicht. 

Da der dritte Prediger krank zu Bett lag, kümmerte sich niemand um Heinrich und seine Mutter, die bald kaum noch in der Lage war, den Weg nach Schwerte oder gar nach Dortmund zu bewältigen. Stattdessen setzte sie sich an die nahe Straße und bettelte die wenigen Handelsreisenden an oder schickte Heinrich zu den Bauern.

„Da ist ja der kleine Daubenfüßer“, sagten manche spöttisch und oft auch ärgerlich, wenn er wie aus dem Nichts von hinterwärts auftauchte und sie erschreckte. Sie gaben ihm ein wenig zu essen, für die Mutter jedoch gaben sie ihm nichts.

Den ersten Winter nach dem Verschwinden Emilias überlebte Dorothea, im folgenden jedoch fand sie im Wald den Tod. Eines Abends war sie ohne ein Wort durch die Schneeverwehungen in den Wald gestapft und nicht mehr zurückgekommen. Heinrich, der voller Angst und frierend die ganze Nacht gewartet hatte und bei jedem Geräusch aufgeschreckt war, fand seine Mutter am Morgen mitten auf einem zugefrorenen Tümpel. Er betrachtete sie lange. Die Augen weit aufgerissen zu den kahlen Baumkronen hin, die Lippen und Teile der Wangen weggefressen, so lag sie auf dem stumpfen, am Rande mit Schnee bedeckten Eis. Überall waren einzelne Blutspuren, doch die Tiere des Waldes, die die Mutter fressen mussten, waren fort. Heinrich verspürte keine Angst. Es war hell und ruhig im Wald. Dort lag die Mutter. Sie war tot. Er war allein.

Er stapfte zurück zur Hütte, nahm die neun Geldstücke aus dem Versteck neben der Feuerstelle und machte sich auf den Weg. Der Schnee war an vielen Stellen sehr tief und er kam mit seinen kurzen Beinen nur schlecht vorwärts. Oben auf dem Krainberg, gute drei Stunden war er bereits unterwegs, hockte er sich für einen Moment unter den Galgen, der lange nicht benutzt worden war. Das zugeschneite Ruhrtal lag vor ihm, er konnte das dunkle Band des sich durch die Sumpfwiesen schlängelnden Flusses erkennen und den schiefen, ganz und gar schwarz sich abhebenden schiefen Turm von St. Viktor. Von hier aus war es zu allen Bauernhöfen, die er kannte, etwa gleich weit. Heinrich ging in Gedanken die Wege und versuchte, sich die Bauern ins Gedächtnis zu rufen, die gut zu ihm gewesen waren. Oder sollte er zum dritten Prediger gehen, der aber eine Weile schon sich nicht mehr hatte blicken lassen? Wenn er nur wüsste, wo Emilia ist, so würde er so lange gehen, bis er sie gefunden hätte! Es begann wieder zu schneien, bald schon war nichts mehr zu sehen außer dem Gewirre und Geworre der Schneeflocken.

Ein Knecht, der den frierenden und völlig erschöpften Jungen neben der Scheune stehen sah, nahm ihn mit ins Haus, wo die Bauersleute und das Gesinde auf der Tenne zusammensaßen. Niemand achtete auf die Hereinkommenden, denn alles blickte wie gebannt zu einem Mann, der auf einem Hocker vor der Feuerstelle saß und etwas aus einem Buch vorlas. Er formte mit dunkler Stimme langsam Worte, die für Heinrich keinen Sinn ergaben. Nachdem nun der Vorleser nach einer Weile geendet hatte, sah er in die Runde der still Dasitzenden und entdeckte zu seiner nicht geringen Überraschung Heinrich, der mit dem Knecht noch an der Tür stand.

„Du bist der, den manche spöttisch Daubenfüßer oder auch Herrn Daubenfuß nennen“, sagte der Mann endlich mit einem Lächeln in die Stille hinein, „ich habe dich schon einmal gesehen.“

Heinrich nickte, am ganzen Körper zitternd. Ein alter Knecht holte ihn kurzerhand zum Feuer und half ihm aus den nassen Kleidern. Er wurde in eine Decke gehüllt und man bereitete ihm ein Lager nicht weit von der Feuerstelle. Niemand richtete eine Frage an ihn, und noch während im Halbdunkel die Bauersleute leise mit dem Vorleser redeten, wurde er müder und müder. Einige gezischte Worte wie „Franzosenbrut“ und „Teufelsbalg“ hörte er noch heraus, bevor er endlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.   

Man ließ Heinrich in den ersten Wochen all die Arbeiten auf dem Hof verrichten, die ein etwa sieben- oder achtjähriges, nicht sehr kräftiges Kind tun konnte. Er war dafür zuständig, dass der Brunnen nicht einfror, und so sah man ihn Tag und Nacht mit einem Stecken in der Tiefe herumstochern. Eines Tages aber, als endlich Tauwetter eingesetzt hatte, überall tröpfelte und gurgelte es, sandte man ihn frühmorgens mit einem Brief, den der Fremde, der noch immer auf dem Hof weilte, für den Bauern geschrieben hatte, nach Schwerte hinüber. Der Bauer hatte Angst, das zugelaufene Kind einer Hure ohne Wissen und Erlaubnis des Rates zu behalten. Dem Grafen von Hohen-Limburg, Friedrich Moritz zu Bentheim-Tecklenburg, von dem der Bauer das Land gepachtet hatte, würde der Fremde es bei einem geplanten Besuch in dessen Haus persönlich mitteilen. So war es verabredet. Insgeheim hoffte der Bauer, man würde den kleinen Heinrich abholen und in ein Waisenhaus stecken, denn so ein Balg aß mehr als es einbrachte.

Heinrich trottete los. Seine schlechten Schuhe waren schon nach wenigen Schritten durchnässt, der Weg war schlammig, doch er beschloss trotzdem, nicht direkt nach Schwerte zu gehen, sondern einen großen Umweg zu machen. Die Hütte, die er nach gut drei Stunden erreichte, war inzwischen zusammengebrochen, und als er zu dem Tümpel im Wald kam, war von der Leiche der Mutter nichts mehr zu sehen. Nur die kahlen Äste der Bäume spiegelten sich im trüben, toten Wasser, in dem noch einige Eisbrocken schwammen. Er warf einen Stein hinein, dann noch einen und noch einen, und als er keine Steine mehr fand, verließ er den Wald und ging hinunter in die Stadt. Er wollte, das hatte er sich fest vorgenommen, den dritten Prediger fragen, wo Emilia hingegangen ist.

Den Brief legte er, als auf sein schüchternes Klopfen niemand öffnete, vor die Tür des Rathauses. Dann ging er hinüber zur Kirche und fand den dritten Prediger lesend in der Sacristei.

„Heinrich“, rief er überrascht und legte die Broschüre zur Seite, „bist du allein? Wo ist Emilia?“

Heinrich schwieg.

„Deine Mutter ist also tot“, sagte der Prediger nach einer Weile, „und die Teufel werden, daran habe ich keine Zweifel, deine Schwester nach Breslau mitgenommen haben!“

Heinrich warf, statt zu antworten, einen Blick auf die Krücke, die neben dem Prediger gegen die Wand gelehnt stand, drehte sich auf dem Hacken herum und ging grußlos zur Tür hinaus. Der Prediger sah ihm erstaunt hinterher, tat aber nichts und vertiefte sich wieder in den Bericht, der vor einer neuen und zunehmend um sich greifenden religiösen Bewegung warnte, dem Pietismus, dem streng zu begegnen sei. Derweil lief Heinrich alle Wege ab, die er kannte, doch niemand in der Stadt beachtete ihn, niemand sah ihn an, es war, als wäre er unsichtbar, als ginge er wie ein Geist durch die Welt, der Geist eines kleinen Jungen, dem nichts anderes übrigblieb, als weiterzuleben und an seine Schwester zu denken, die jetzt, das immerhin wusste er nun, in Breslau bei den Teufeln ist, wo immer das auch sein mochte. Breslau! Das durfte er nicht vergessen.

(…)

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