Ich bin und bleibe ganz Ihr Diener!

Rede, Gegenrede – ein Gespräch

Augen-geradeaus-Norbert-W.-Schlinkert

Erster Auftritt

Das Dienen scheint vollkommen aus der Mode gekommen zu sein, jedenfalls die Art des Dienens, die ohne Leistungsdenken auskommt. So ist es kein Wunder, daß es das Wort Uneigennutz nicht wirklich gibt, es sei denn, es stünde in einem Text Robert Walsers, was ich jetzt aber unmöglich nachprüfen kann, das müssen Sie verstehen. Überhaupt liegt es mir nicht, fremder Leuts Aufträge in Eigentätigkeit zu verwandeln oder umzumünzen, was zur Folge hat, bitte hören Sie mir zu, nicht am Erwerbsleben in seiner üblichen Ausprägung teilnehmen zu können, so leid es mir tut. Einzig und allein bin ich bereit, Gelder, beachten Sie den Plural, ohne jede Gegenleistung in Form von Dienstleistungen entgegenzunehmen. Ausgenommen von all dem ist allein jene Tätigkeit, die darin besteht, aus den zweieinhalb Dutzend Buchstaben des Alphabets Satzgirlanden zu weben, dafür lasse ich mich gerne bezahlen, allen Ernstes, denn es purzelt und poltert nur so aus mir heraus, wie Sie unschwer erkennen können, und am Ende, welches naturgemäß nur ein vermeintliches oder, wenn Sie so wollen, ein vorläufiges sein kann, haben wir dann eine Textur, ein kreuz und quer verwobenes und sich selbst immer weiter verwebendes, sich auch selbst immer wieder und weiter befruchtendes Gewebe, vorläufig und läufig, verzeihen Sie den Kalauer, zugleich! Sie sehen, ich bin und bleibe ganz Ihr Diener!

Mond?, Norbert W. Schlinkert

Erste Reprise

Zum Glück gelingt es mir nicht selten, mich zu beruhigen! Die Stimme verstummt zwar nicht, doch ich drehe ihr gewissermaßen den Ton leiser. Ich atme dagegen an und lege mir zugleich Argumente und Strategien zurecht, für alle Fälle. Ich denke sogar oft selbst über all diese Fragen nach, so als seien sie mir nie von der Stimme aufgezwungen worden. Ich stehe dann denkend und sinnend, stelle ich mir vor, allein in der Lobby eines Hotels vor einem Spiegel, der über einem Ledersofa seinen Platz hat und nach vorne in den Raum hinein geneigt ist. Ich sehe zu mir auf und zugleich zu mir hinunter und erkenne mich gleichsam wechselseitig selbst. Ich nicke mir zu. So muss es Narziß ergangen sein, denke ich. Ob er wohl mit seinem Spiegelbild sprach, frage ich mich. Und wenn er es tat, so wäre doch dies eine Art Vereinigung gewesen mit dem geliebten Wesen. Er hätte sich so selbst einen Gefallen getan und zugleich der Welt, denn was nutzt der Welt ein Mensch, der stumm nur sich selbst im Blick hat. Das frage ich mich.

Blümchen, Norbert W. Schlinkert

Zweiter Auftritt

Wenn ich das Thema noch einmal aufgreifen darf, so würde ich gerne an den Gedanken anknüpfen, den ich zuletzt zur Textur äußerte. Ausnehmend wichtig nämlich erscheint mir der Gedanke des Querens, auch so ein Wort, denn ohne das Hinübergreifende lägen all die Stränge unserer Existenz nur längs in Raum und Zeit, Sie verstehen, was ich meine, wohingegen alles in einem Winkel von, sagen wir mal, nur so als Beispiel, damit es ordentlich anschaulich wird, neunzig Grad zu uns Stehende uns die Möglichkeit bietet, nicht schnurstracks zur Hölle zu fahren oder gen Himmel, sondern abzubiegen, Umwege zu nehmen, wenn auch dies nachgerade am Ziel unseres Lebensweges nichts ändert, dem Weg selbst aber Spannungsmomente und die rechte Würze zu geben vermag. Sie mögen sagen, das sei ein allzu einfaches Modell, denn auch mäandernd Raum und Zeit zu durchfließen sei doch vorstellbar, vor allem, wenn sich die Prallufer nicht nur annäherten, sondern beidseitig auflösten, sich also die Wässer des Lebens ineinander ergössen. Nun ja, sicher, das ist das schönere Modell, zugegeben, ich gratuliere Ihnen, aufrichtig. Sie sehen, ich bin und bleibe ganz Ihr Diener!

Sich in einer Kuhle sonnendes Fragezeichen, Norbert W. Schlinkert

Zweite Reprise

Ich bin ganz ruhig. Ich blicke zu mir hin. Ich habe Blickkontakt. In der Antike gab es die Vorstellung, nach der die Augen den Gegenstand beleuchten, den sie sehen. Das ist falsch, wenn damit die Vorstellung einer Lichtquelle verbunden ist. Dennoch, was ich ansehe, hebe ich heraus aus dem, was ich nicht ansehe und nicht erkenne. Insofern ist die Vorstellung richtig. Man kann nur geradeaus blicken, gewissermaßen, das erklärt den Ursprung des Gedankens. Die Verbindung von mir zu einem anderen Menschen aber setzt voraus, denke ich, in eine andere Welt wirklich einzudringen, wenn auch nur eine Winzigkeit. Ich bewege mich dann in dieser anderen Welt, indem ich spreche. Ich setze mich in Verbindung, ohne mich zu vereinigen. Ist das der Unterschied zum Sprechen mit mir selbst? Das frage ich mich.

Polaroid 33 (Ausschnitt,NB) Norbert W. Schlinkert

Dritter Auftritt

Ich sehe es Ihnen an, daß in Ihnen ein gewisser Stolz aufblüht, glauben Sie es mir, doch ein gutes Bild, eine gute Metapher, wie die zuletzt von Ihnen vorgeschlagene, reicht bei weitem nicht aus, sich dem Geheimnis des menschlichen Seins auch nur anzunähern. Sind Sie schon einmal, das frage ich Sie nun in einer Weise, als sprächen wir zum ersten Mal miteinander, auf den Gedanken verfallen, das Leben müsse eine Entfaltung sein, ganz so, wie wir einen Werbeprospekt, sagen wir den eines Musikinstrumentengeschäfts oder den Prospekt eines Theaters, auseinanderfalten, um nach und nach all die Wunder zu erkennen, die da feilgeboten werden? Sie werden einwenden, das sei ein alter Gedanke, der mit dem Ende des Neuplatonismus gleichsam wieder eingefaltet worden ist, Ihr Faktenwissen kann einen wahnsinnig machen, wissen Sie das, doch ich sage, dieser Gedanke bietet ganz im Gegenteil die Folie, vor der wir uns zu bewegen haben. Und außerdem, das gebe ich zu bedenken, wenn Sie mir denn noch einen Augenblick Gehör schenken wollen, muß etwa der Bühnenprospekt, Sie wissen, der gemalte Bühnenhintergrund, aus seinem Fach in der Unterbühne befreit und ausgerollt werden, um der zu schaffenden Welt das gewollte Gepräge zu geben. Oder denken Sie an die frühe Photographie, denn auch da arbeitete man mit Hintergründen, die im wahrsten Sinne des Wortes bedeutend waren. Sprechen wir also doch lieber, schlage ich vor, von einer Ausrollung des Lebens, und selbst wenn Sie lächeln und ihren Kopf eine Winzigkeit zur Seite werfen, um mir ohne Worte zu versichern, wie unsinnig dieser Gedanke sei, ich weiß die Welt, zu der auch Sie gehören, ob Sie nun wollen oder nicht, auf meiner Seite. Sie sehen, ich bin und bleibe ganz Ihr Diener!

Polaroid 36 (Ausschnitt,NB) Norbert W. Schlinkert

Dritte Reprise

Ich bleibe ruhig. Ich lasse mich nicht aus den Augen. Ich bin ganz bei mir. Hat nicht, frage ich mich, die Erbsünde das Beisichsein des Menschen erst begründet. Anderthalb Jahrtausende die Last aller als eine eigene zu tragen, seit einer Synode im sechsten Jahrhundert. Du bist schuld bedeutet seitdem das Selbe wie Ich bin schuld. Und dann die Ohrenbeichte, das Eindringen der Stimme in das Ich des Priesters. Wo auch immer das Leben dich hinstellt, es verlangt Rechenschaft. Ich muß beständig nachdenken und mich mit mir selbst auseinandersetzen, mit mir sprechen, mich nicht davonkommen lassen. Muß ich also über mich herrschen und mir dienen zugleich? Das frage ich mich.

Holz, Norbert W. Schlinkert

Vierter Auftritt

Ohne Zweifel hören Sie mir nur noch aus Höflichkeit zu und beschämen mich eben dadurch mehr als durch eine grobe Abweisung. Allerdings zwingt eben dies mich, den zuletzt entrollten Gedanken nicht nur wieder aufzugreifen, sondern weiterzuführen, denn, glauben Sie es oder glauben Sie es nicht, ich wäre nicht der, der ich bin, käme ich nicht auf den ursprünglichen Gedanken des Dienens zurück, denn dient das Dienen nicht zuletzt immer sich selbst, frage ich, beißt es sich nicht gleichsam selbst in den Schwanz, haben wir es nicht bei allem Leben, sage ich, mit Rezirkulation zu tun? Ja, Sie haben ganz richtig gehört. Ihre leicht hochgezogene linke Augenbraue, sehr schön machen Sie das, bedeutet mir klarer als mir lieb ist, wie Sie über diese Vorstellung denken, denn selbstredend hat sie etwas Banales an sich, mit dem sich das Leben erschreckend einfach erklären läßt, Staub zu Staub, der Strudel des Lebens als ein Malström, Vico und seine Philosophie, all diese Dinge, doch lassen Sie mich Sie versichern, daß da mehr dran ist, als wir zu begreifen vermögen, denn nicht nur frißt sich die Schlange selbst, nein, mitnichten, auch unser Hirn denkt sich selbst, und wenn eben dies nicht das Selbe bedeutet, auch wenn Sie nun gekonnt die andere Augenbraue hochziehen, tun Sie das ruhig, so weiß ich es auch nicht! Sie sehen, ich bin und bleibe ganz Ihr Diener!

Polaroid 38 (Ausschnitt, NB) Norbert W. Schlinkert

Vierte Reprise

Mein Atem fließt gleichmäßig in mich hinein und wieder heraus. Wie selbstverständlich. Blicke ich in den Spiegel, so ist dieses ruhige Atmen augenfällig. Schließe ich die Augen, so kann ich es immer noch hören, ganz leise. Auch spüre ich es, der Atem geht in mich. Ich gehe in mich. Ich bewege mich und bin doch ruhig. Im fünfzehnten Jahrhundert sagte man, der Mensch könne sich Gott nicht annähern, in der Unendlichkeit gäbe es keine Bewegung, im achtzehnten Jahrhundert dann galt die Wiedergeburt zu Lebzeiten als eine Vereinigung mit Gott, eine Rückbesinnung zum Ursprung durch Aufgabe aller menschlichen Begierde. Warum ist mir das alles fremd, denn ist nicht das Insichsein zugleich das Außersichsein? Das frage ich mich.

Herbstlicher Balkonblüher, Norbert W. Schlinkert

Fünfter Auftritt

Ich bin es wieder, denn ich möchte, nein ich muß noch einmal den Gedanken aufgreifen, den ich zuletzt nur angedeutet hatte, Sie erinnern sich. Ach, Sie erinnern sich nicht, weder an irgendwelche Gedanken noch auch an mich, sagen Sie, nun, das gibt mir die Gelegenheit, die Vergessenheit als die eigentliche Antriebskraft des menschlichen Lebens zu würdigen, nein, nein, nicht die Vergesslichkeit, da verstehen Sie mich miß, und nicht zum ersten Mal, wie ich mich deutlich erinnere. Was ich sagen will ist, hätten wir denn die deutliche Kenntnis unseres bisherigen Lebens, mit allen Einzelheiten und den Folgen derselben, so würde dies unseren sicheren, sofortigen Tod der Scham halber bedeuten, was im Umkehrschluß heißt, die Vergessenheit gleichsam als den Brennofen unseres Seins betrachten zu müssen, den wir mit den Kohlen der Gegenwart befeuern, um auf dem Gleis des Lebens fortfahren zu können. Sie raffen, wie ich sehe, ungeduldig Ihre Utensilien zusammen und blicken hilfesuchend auf Ihre Armbanduhr, doch lassen Sie mich den Gedanken wenigstens, um im Bild zu bleiben, bis zum nächsten Bahnhof fortführen. Ach so, das finden Sie nun wirklich albern und unter Ihrem Niveau, sagen Sie, nun denn, sage ich, Reisende soll man, wie es so schön heißt, ja nicht aufhalten. Sie sehen, ich bin und bleibe ganz Ihr Diener.

Gedoppelt I (Ausschnitt), Norbert W. Schlinkert

Fünfte Reprise

Kann ich mich von mir selbst abwenden, in einem Augenblick, in dem ich die Ruhe selbst bin? Ich frage mich das. Was oder wer bliebe zurück? Kann ich mir überhaupt selbst entkommen? Gehe ich denn nicht nur immer selbst auf mich zu, auf mich ein. Bin ich die ewige Wiederkunft meiner selbst? Diese Fragen stelle ich mir unentwegt, wenn ich die Ruhe dazu finde. Und beantworten sich diese Fragen nicht auch von selbst, indem die Fragen sich mir stellen? Darüber denke ich nach. Ich frage stumm mein Spiegelbild. Es zuckt nur mit den Achseln. Doch sicher stimmt es mit mir überein, wenn ich sage, die Gegenwart ist die Kerbe, in der das Ich hockt im ewigen Kreislauf des Seins. Doch hockt es dort allein oder ist wer bei ihm? Diese Frage bleibt für immer.

Polaroid 73 (Ausschnitt,NB) Norbert W. Schlinkert

Sechster Auftritt

Sie müssen allen Ernstes denken, ich sei ein Sie auf ewig heimsuchender Wiedergänger. Da bringen Sie mich, wo wir hier so angenehm plaudern, immerhin auf einen Gedanken, und Ihr Schweigen gebietet mir, diesen Gedanken keinesfalls unausgesprochen zu lassen, denn die Wiedergängerei ist ein Phänomen, das die Menschheit begleitet, seit sie aus dem Ei der Selbsterkenntnis schlüpfte, wenn ich das einmal so ausdrücken darf. Ihr beidseitiges Augenbrauenhochziehen ist mir Applaus genug und zugleich Aufforderung, Ihre Neugierde mit einer Erklärung zu befriedigen, denn nicht nur ich bin mir Wiedergänger meiner selbst, das wäre ganz und gar nicht der Erwähnung wert, da haben Sie recht, sondern es ist die Vorstellung, die Sie von mir haben, die die eigentliche Wiedergängerei ausmacht, vor allem da ich, das wissen Sie, allein in ihrem Kopf vorhanden bin, wenn ich das mal so deutlich aussprechen darf, denn da bin ich ganz eins mit dem Herrn Philosophen Kant, und zwar demjenigen aus Königsberg. Sie bestreiten das, das dachte ich mir, doch Sie müssen wissen, dass es keinesfalls in meiner Macht und auch nicht Absicht liegt, Sie zu verlassen, denn nicht nur ich bin Ihr Wiedergänger, Sie sind auch der meinige, so daß es scheint, die Wässer des Lebens hätten sich in der Tat vermischt, und schauen Sie mal, eben dies hatten wir ja schon einmal, wie Sie sich wohl erinnern werden. Nein, sagen Sie, Sie wissen nicht, was ich meine, Sie erinnern sich nicht, doch das macht nichts, ich sehe es als meine Aufgabe an, für Sie all das Vergangene zu erinnern, denn nur so können wir es gemeinsam, Sie werden lachen, anständig vergessen, und auch das hatten wir ja schon. Sie sehen, ich bin und bleibe ganz Ihr Diener!

Norbert W. Schlinkert, Nora (Ausschnitt, NB)

Sechste Reprise

In völliger Ausgeglichenheit bleibe ich in meinem Bild und blicke mir tief in die Augen. Mein Spiegelbild lächelt mich an. Man darf sich nicht verrückt machen lassen, sage ich mir. Das Wort Doppelgänger ist erst vor zweihundert Jahren der deutschen Sprache anheimgegeben worden. Darüber denke ich jetzt nach. Lange ging es als Möglichkeit in ihr um, dann erschien es plötzlich, wie aus dem Nichts. Auch hier wieder das Gehen, der Doppelgänger geht mit mir. Wem aber dient er? Das frage ich mich. Und wer ist wessen Doppelgänger in welcher Weise, wechselt das Verhältnis von Herr und Knecht, weiß er so gut wie ich, wer ich bin und wer der Andere ist? All diese Fragen stellen sich. Das sage ich mir beständig, in aller Ruhe.

James Joyce 1, Selbstgespräch (NB), Norbert W. Schlinkert

Siebter Auftritt

Wie schön es doch ist, sich mal in aller Ruhe über die Dinge des Lebens auszutauschen, finden Sie nicht auch? Die wichtigsten Dinge sind allerdings meist keine solchen – eine Binse, das weiß ein jeder, Sie so gut wie ich. Das Gute ist ja, daß man Gewißheiten teilen kann, ohne sie aufteilen zu müssen, jeder hat sie ganz und gar für sich allein. Überhaupt ist die Ungeteiltheit doch das, was das Leben des Einzelnen ausmacht, das Leben darstellt als ein Ganzes, so sehe ich das wenigstens. Ihre rechte Augenbraue gibt mir zu verstehen, wie nahe ich der Wahrheit komme, wenn ich von einem Darstellen des Lebens spreche, nein, sagen Sie nichts, denn Ihre Augenbraue zuckte in eben der Millisekunde, in der ich davon sprach. So sind wir also, als hätten wir dies, wenn auch davon keine Rede sein kann, geplant, kreisläufig eben da angelangt, wo wir, Sie erinnern sich, bereits einmal gewesen sind, nämlich beim Theater des Lebens, das sich vor eben dem Bühnenprospekt abspielt, dem wir vor einer Weile gedachten der puren Notwendigkeit wegen, nicht vor einem Nichts unsere Späße machen zu können. Sie lächeln, das sehe ich wohl, doch wenn Sie nur einen kleinen Moment nachdenken wollen, tun Sie es mir zuliebe, so werden Sie feststellen, daß wir uns gemeinsam in eben diesem Bild befinden, vor dem Bühnenprospekt und auf den Brettern, die die Welt bedeuten, ja, Sie hören ganz richtig. Sehen Sie, dort vor uns, nun schauen Sie doch hin, das ist der Zuschauerraum, und glauben Sie mir, jeder Einzelne dort ist bei uns, auch wenn den armen Seelen der, so will ich es einmal nennen, duale Charakter unserer Aufführung wohl entgehen wird. Doch das macht nichts, denn immerhin sind wir, da hege ich keinerlei Zweifel, ganz bei uns. Sie sehen, ich bin und bleibe ganz Ihr Diener!

Polaroid 54 (Ausschnitt, NB) Norbert W. Schlinkert

© Norbert W. Schlinkert 2013 – Alle denkbaren Rechte beim Autor

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Leser und Nichtleser

Ein guter Roman packt den Leser am Schlafittchen und zieht ihn in sich hinein, worauf der Leser, zugleich hocherfreut und zu Tode erschreckt, gleich damit beginnt, sich sowohl weiter hinein- als auch wieder hinauszulesen. Was, darüber denkt er unwillkürlich nach, wenn er nie wieder hinauskäme? Was aber, ebenso wichtig, wenn er sofort wieder hinaus müßte und nie wieder hinein dürfte? Beides dünkt ihn, den Leser, eine Katastrophe. In einer Kurzgeschichte steckt man nur kurz mal fest, das weiß er, das ist wie Probeliegen in der Bettenabteilung eines Kaufhauses, doch so ein Roman hat es in sich. Soll man also tatsächlich, das fragt er sich, Sympathien vergeben und Antipathien hegen, also tätig Anteil nehmen, mitlachen und mitleiden – oder aber doch auf Distanz bleiben und dieses Roman genannte Kuriosum einfach kurios sein lassen? Grauenvolles Dilemma! Er weiß natürlich auch, daß alles andere außer einer kolossalen Vollverweigerung unweigerlich dazu führt, die eigene menschliche Hülle als ein in ein Buch glotzendes Etwas in der Welt zurückzulassen, sich selbst des Schlafes beraubend, seine Haltestelle verpassend, warnende Rufe mißachtend und so allerlei Unbill auf sich ladend. Keine schöne Situation. Doch heißt es nicht auch „no risk no fun“, jaja, und das ist ja auch nicht falsch, selbst wenn Generationen von Lesern sich das wirkliche Leben ruinierten durch ausdauerndes Lesen, während so manch ein Nichtleser reich und mächtig wurde. Sehe man sich doch nur mal die Welt an, die ist doch nicht von Lesern gemacht, sondern eindeutig von Nichtlesern! Und haben sie, die Leseverweigerer, nicht absolut recht – da könnte man ja gleich versuchen, nur so als Beispiel, sich mit Tagträumen den Lebensunterhalt zu verdienen! „Tagträume zu verkaufen, drei Stück zu neunundneunzig Euro, oder nehmen Sie doch gleich die Vorratspackung mit zwölf Stück für nur zweihundertneunundneunzig Euro!“ Wahrscheinlich könnte man froh sein, alle paar Wochen einen für neunundneuzig Cent loszuwerden! Neinnein, so geht’s nicht, das ist mal klar. Aber wo läge die Lösung? Vielleicht darin, überlegt er, die Romane selbst zu schreiben? Der Leser denkt einen Moment darüber nach, knapp über die Schmerzgrenze hinaus, verwirft den Gedanken dann aber schnell wieder, denn aus der Nummer käme er dann nun wirklich nicht mehr heraus!

Sich in einer Kuhle sonnendes Fragezeichen, Norbert W. Schlinkert

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Circulus vitiosus

Das Leben ist ein Geduldsspiel! Nichts ist wahrer. Überkommt einen aber die Ungeduld, dann hilft es durchaus, die erwartete Angelegenheit als schon vergangen zu betrachten und sie sich selbst einfach als autobiographische Besonderheit zu erzählen. Etwa so: kaum war ich gestorben, standen mir die damaligen Ereignisse so lebhaft vor Augen, als passierte all dies eben jetzt – und so weiter und so fort. Das kann sogar, zu Lebzeiten, sehr spaßig sein, dieses Sichselbstberichten von noch nicht eingetretenen Ereignissen, wenn man denn zu erzählen weiß. Treten sie dann aber wirklich ein, dann weiß man schlagartig eines ganz sicher, daß nämlich der eigene Tod wieder ein Stück nähergerückt ist, denn wie schnell sind sie nicht, die Ereignisse, dann wirklich schon von gestern! Das geht ratzfatz.

Überhaupt könnte das die Ewigkeit sein, beziehungsweise sie ausmachen, sie bedeuten, sich nämlich das eigene Leben immer wieder erzählen zu müssen – und ob das dann Lohn oder Strafe ist, hängt naturgemäß zu einem guten Teil von uns selbst ab, will ich meinen. Dabei kann man dann sicher auch mal von der Wahrheit abrücken und alles ein wenig ausschmücken, denke ich, man hat ja schließlich ewig Zeit in der Ewigkeit, das versendet sich also – doch der wahren Wirklichkeit entkommen, würde ich mal sagen, kann man dann wohl nicht mehr. Man achte also sehr darauf, was man im Hier und Jetzt so anstellt und daß es nicht zu langweilig wird. Man stelle sich nur vor, man steht da so in der Ewigkeit herum und sagt, so als Beispiel, immer nur „Kindergarten, Schule, Lehramtsstudium, Schule, Rente / Kindergarten, Schule, Lehramtsstudium, Schule, Rente / …“  – das muß einen doch wahnsinnig machen, schon allein deswegen, weil Wahrheit, Wirklichkeit und Erzählung so fürchterlich deckungsgleich sind. Nee, nee, da lob ich mir doch das ewige Auf und Ab und die ganze Schreibarbeit und auch das ewige Hoffen und das Warten auf Erfolg und Bestätigung, was dann irgendwann schon gekommen sein wird, sage ich jetzt mal quasi vorausschauend. Tja. Aber natürlich, das darf dann an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, kann das alles auch ganz anders sein, das mit der Ewigkeit und dem eigenen Leben und dem ganzen Rest und so, doch ist das dann wieder eine ganz andere Geschichte.

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Kumpfmüllers Franzosen

Die Franzosen sind ein seltsames Völkchen – das muß man jedenfalls annehmen, wenn man den Artikel von Michael Kumpfmüller in der FAZ liest. Dabei haben die Franzosen einfach nur eine andere Vorstellung von Freundschaft mit Fremden – das weiß man doch. So sagt Methusalix im Asterix-Band ‚Das Geschenk Cäsers‘: „(…) ich hab‘ nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da sind nicht von hier!“ Oder auch: „(…) Mich stören Fremde nicht, solange sie bleiben wo sie hingehören. Wenn sie aber zu uns kommen, hab‘ ich keine Lust zu ihnen zu gehen!“ Das hätte Herr Kumpfmüller bedenken müssen, bevor er ins Westrheinische reiste, denn dann wäre er auch nicht überrascht gewesen, daß die Leute, die ihm einen Literaturpreis verliehen hatten, überhaupt nicht mit ihm sprachen und ihm auch sonst nichts mitteilten. Warum auch, sage ich, denn schließlich ist heute ja ganz Frankreich quasi das gallische Dorf in einer globalisierten Welt, nur daß die anderen nicht die Römer sind, was die Franzosen aber leider nicht wissen können, weil es ihnen niemand sagt, auch Herr Kumpfmüller nicht. Mission gescheitert.

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Verdichtung

Im Moment habe ich so eine seltsame Unlust, Texte zu schreiben. Das heißt, in meinem Kopf entstehen sogar unentwegt Texte, die sich an ein zukünftiges Schreibprojekt heranrobben, aber ich will sie noch nicht in Raum und Zeit stellen. Einerseits. Andererseits stimmt das alles nicht, denn in meinem Kopf entstehen nicht Texte, sondern Figuren, die aber, und da stimmt es wieder, noch viel zu brav sind, noch nichts Dämonisches haben und keine Tiefe, keine Seele, keine Widersprüche, so daß es fatal wäre, sie ans Licht und an die Luft zu lassen – sie würden zerbröseln oder durchs Papier quasi aufgelöst werden. Das kann ich jetzt noch nicht riskieren, also schreibe ich nicht, oder eher: kaum – denn ein paar dutzend Seiten des nächsten Romans sind durchaus schon entstanden, um den „Sound“ der Zeit und den des Ortes zu finden. Ansonsten aber steht jetzt lesen an, lesen, lesen, lesen. Soviel dazu. Beizeiten mehr.

Werdung, Norbert W. Schlinkert

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Aus dem Bild getreten

Schere er sich fort, hebe sie sich hinweg, mache er sich vom Acker, siehe sie zu, daß sie Land gewinnt, verkrümele er sich, verpisse sie sich einfach! Das ist nur eine kleine Auswahl der Ausdrücke, die einem in den Sinn kommen, wenn man denn selbst an Ort und Stelle verbleiben und einen anderen entfernt sehen möchte, ohne dies tatkräftig selbst zu bewerkstelligen – eine deutliche Ansage sollte da im Regelfall schließlich reichen. Allerdings setzt dies eine gewisse Autorität voraus, die sich etwa auf Grundbesitz gründet oder auf ein Gewohnheitsrecht. Ist die unerwünschte Person dann aber entschwunden, steht man nicht selten ohne ein Gegenüber da, was auch wieder nicht schön ist – Geduld ist gefragt, auf daß ein angenehmerer Zeitgenosse sich bequeme, einem Gesellschaft zu leisten. Kommt aber keiner, wie üblich, so stelle man sich einfach vor einen Spiegel, betrachte sich eine Weile und beginne dann eine Diskussion, etwa darüber, ob solch ein elendes Artikelchen wie dieses hier ein Existenzrecht in dieser Welt besitze oder nicht. Ich würde sagen, nein, die Welt ist besser dran ohne Artikelchen wie dieses, während mein Gegenüber auf das Recht der belanglosen Äußerung pocht und dies auch noch für eine Pointe hält. Weiha, denke ich, was für ein Trottel er doch ist! Folgerichtig trete ich aus dem Bild – und weg ist er! So einfach kann das Leben sein.

Norbert W. Schlinkert, Steine 1

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November

Wenn man, wie ich kürzlich, mit dem Zug durchs novemberliche Deutschland fährt, dann sieht man überdeutlich, wie verdorben das Land ist. Überall Industrie, von der Landwirtschaft und der Holzwirtschaft bis zur Autoherstellung. Auf den Bahnsteigen allüberall graue, dieser Industrie dienende Lohnsklaven, Ge- und Verbrauchsmenschen, deren Seelen in den tiefsten Kellern der Weltkonzerne als Geiseln gehalten werden und vor sich hin rotten. In Wolfsburg, der ICE hielt tatsächlich dort, beobachtete ich einige Minuten die Menschen auf dem Regionalbahn-Bahnsteig und entdeckte niemanden, der Anteil nahm an seiner Umwelt oder gar an den vielen Menschen um ihn herum, und auch später, in der S-Bahn, die mich in Berlin vom Ostbahnhof Richtung der fröhlichen Prenzlauer Berge brachte, herrschte Schweigen. Aber was soll man machen, die uns Beherrschenden wollen es so, eiskalte merkelsche Machtmaschinen, die sie sind – nicht mal die Kinder verschonen sie, schon im Kindergarten werden die auf Effizienz getrimmt; Freiräume oder gar Langeweile dürfen nicht sein, denn dann kämen die Menschen womöglich auf die Idee, ein eigenständiges, aktives, aufmerksames Leben führen zu wollen. Gäbe es einen Gott, so würde er uns womöglich eine neue Sintflut schicken und die Erde vollständig unter Wasser setzen! Allerdings: steigt der Meeresspiegel nicht tatsächlich an, wenn auch wahrlich noch nicht besonders viel? Übt Gott also noch, arbeitet er an seiner Effizienz? Darüber könnte man tatsächlich nachdenken, während man im ICE quer durch dieses Land zischt, im grauen November, in dem der Tod jedes Jahr auf die Bühne des Lebens tritt. Zum Glück aber, auch auf diesen Gedanken könnte man verfallen, ist bald Weihnachten, da kann die Industrie mal wieder zeigen, was sie so drauf hat, was sie so liefern kann, von der digitalen Krippe mit dem Jesukind bis hin zum wirklich allerneuesten Hightechgedöns, auf daß die armen Menschen in den Wolfsburgen der westlichen Welt sich nicht gar so verloren fühlen.

Polaroid 52 Norbert W. Schlinkert

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Viel leicht

Manchmal denke ich am Rande über Worte nach – letztens erst über das Wort „Überdruß„. Heute habe ich über das Wort nachgedacht, das ich handschriftlich am liebsten schreibe: vielleicht. Es hat mehrere Bedeutungen, „könnte sein“ ist eine davon, die andere liegt im Bereich einer verstärkten Form von „tatsächlich“. Im Kluge steht: „mittelhochdeutsch vil lihte, 12. Jahrhundert“, und daß es von Anfang an die heutige Bedeutung hatte. Ein Wort wie ein Fels also. Das ist ja mal vielleicht geil!

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Langweilig

In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (9./10. November 2013, S.34) sagt der Schriftsteller Henning Mankell viel Richtiges, vor allem über die seltsame Sicht, die wir Europäer auf Afrika haben. Auf die Bemerkung des Interviewers „Es gibt ja Schriftsteller, die sagen, die Geschichte entwickle sich erst beim Schreiben so richtig“ aber sagt er: „Ich glaube, das ist kompletter Blödsinn. Wenn Sie Ihre Freunde treffen und Ihnen etwas erzählen wollen, wissen Sie ja auch schon, wie die Geschichte ausgeht. Und genauso ist es mit einer Erzählung auch.“ Hä? Was ist denn das für einer? Jetzt verstehe ich auch, warum ich bei Mankells Romanen nie über die ersten zwanzig Seiten hinausgekommen bin! Der hat die Geschichten nur abgeschrieben, und zwar aus seinem eigenen Kopf! Kein Wunder, daß die nicht zünden! Ich würde mich zu Tode langweilen, und zwar mit mir selbst, wenn ich vorher schon wüßte, was ich erzählen will; und beim literarischen Schreiben hieße das für mich, meine Protagonisten nicht ernst zu nehmen, sie garnicht erst lebendig werden zu lassen. Andererseits hat Mankell ja allergrößten Erfolg mit seinen Geschichten und ist sehr gut gefahren damit, sie so zu schreiben, wie er es tut. Wahrscheinlich kann er einfach nicht anders, der arme Kerl.

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Fressen und Gefressenwerden

Beim Frühstückmachen Radio zu hören ist immer lehrreich – heute sagte eine Moderatorin bei einem Gespräch über Wildtiere in der Stadt, Tiere würden ja einfach immer nur fressen wollen. Und möglichst einfach an das zu Fressende herankommen wollen. Natürlich hat sie damit ganz recht, denn aus eben diesem Grund leben Menschen wie Tiere in Städten. So einfach ist das. Im nächsten strengen Winter, sage ich mal voraus, werden Wildschweine wahrscheinlich sogar erfrorene Obdachlose und unbewaffnete Spaziergänger fressen, das ist unvermeidlich, doch das wird immerhin den unterernährten Journalisten der Hauptstadt die Chance eröffnen, schöne Artikel zu schreiben, auf daß sie was zu beißen haben. Grusel sells! Immer. Natürlich könnten auch Obdachlose Wildschweine essen, aber das wäre ja allenfalls wildromantisch und würfe zudem die Frage auf, wem denn eigentlich die Wildschweine gehören. Sich selbst, uns allen, den Hungrigen, dem Wald? In den mit Villen verschandelten Waldgebieten Westberlins gehören die Wildschweine ja schon zum Straßenbild, die fallen da gar nicht mehr auf zwischen den dort typischerweise eher dicklichen und in Pelze gehüllten Menschen, und mir persönlich ist es auch völlig egal, wer da wen frißt, das macht überhaupt keinen Unterschied. Hauptsache, es wird mit fairen Mitteln gekämpft. Wir hier in den Prenzlauer Bergen haben ja keine Wildschweine, wir sind denen einfach zu mager, glaube ich. Wir haben nur Füchse, die einem, ist man spät noch unterwegs, brav gute Nacht sagen, worauf man freundlich den Hut lüftet und friedlich seiner Wege geht.

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