Norbert W. Schlinkert: JEDER PFIRSICH Erzählender Essay, vulgo Roman: Drittes Kapitel.

Norbert W. Schlinkert

JEDER PFIRSICH

Erzählender Essay, vulgo Roman

Drittes Kapitel

Am nächsten Tag werde ich entlassen. Gefeuert! Man habe ein richtiges Mädchen gefunden, die bereits gedrehten Szenen werde man bearbeiten, der Kopf der neuen Darstellerin passe sicher perfekt auf meinen Körper. Der Regisseur, ich glaube er heißt Dietmar, lacht auf, sagt etwas von ausstehender Gage und dem Kleingedruckten, das aber natürlich, harhar, heutzutage gar nicht mehr kleingedruckt sei. Gutgut, sagt er noch, juhtjuht, und verschwindet ins Nichts. Weg ist er. Ich gebe Spreizer, Mimi, Kiki, Bibi und Vivi, die in der Cadillac-Attrappe herumlümmeln, die Hand, alle nicken mir bittersüß zu, ohne mir ins Gesicht zu sehen, keiner sagt etwas und dann stehe ich auch schon mit dem Rücken zur Halle auf dem schwarzen Schlackenboden und ergebe mich dem Himmel, der sich erdrückend über mich beugt. Direkt vor mir erkenne ich eine besonders hohe und besonders gelbe Wolke zwischen den sich gen Horizont erstreckenden alten Montagehallen aus rotem Backstein und dem gläsernen Neubau einer Verkaufsstelle für E-Autos, E-Roller, E-Fahrräder, E-Langlaufskier, E-Tauchboote, E-Kleinflugzeuge, E-Puppen etc. Ein riesiges E-Plakat hängt neben dem Gebäude, blaue Schrift auf safrangelbem Grund. Alles flimmert. Das also, denke ich, ist meine erste Rolle als Mädchen gewesen, aber jetzt hat man ja ein richtiges Mädchen gefunden, das richtig menstruiert und das Mädchensein nicht zu spielen braucht. Dabei habe ich das sicher gut gemacht. Was wohl meine Mutter sagen wird, wenn ich plötzlich einen anderen Kopf habe, frage ich mich still, doch der Witz zündet nicht. Ein Rohrkrepierer. Ich gehe ein paar Schritte und betrete die Verkaufsstelle für E-Autos, E-Roller, E-Fahrräder, E-Langlaufskier, E-Tauchboote, E-Kleinflugzeuge, E-Puppen etc., worauf jemand prompt Cut ruft und Rumoren einsetzt und eine kleine Dralle mir einen schwarzen Kaffee in einem Pappbecher bringt, Dietmar aus den Kulissen winkt, während zugleich der Produzent schwergewichtig die Treppe des dreistöckigen Containerturms heruntersteigt, ein untrügliches Zeichen dafür, dass nun Feierabend ist, für mich jedenfalls. Ich hätte Lust zu kündigen.

=> Viertes Kapitel

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Norbert W. Schlinkert: JEDER PFIRSICH Erzählender Essay, vulgo Roman: Zweites Kapitel.

Norbert W. Schlinkert

JEDER PFIRSICH

Erzählender Essay, vulgo Roman

Zweites Kapitel

Hier beginnt es. Das zweite Kapitel ist das erste. Die Personen werden eingeführt, und zwar ohne Betäubung in die Köpfe der Leser. Das tut manchen sehr weh und sie lesen nicht weiter. Für die, die weiterlesen:

Ich bin Dudu, sage ich, und mir werden oft Vorhaltungen gemacht, weil ich meinen richtigen Namen nicht sagen will. Richtig heiße ich Duygu, sage ich, aber Dudu ist besser.

Ich stehe im Nieselregen, während die fünf Menschen unter einem Überbau auf einem halbrunden Betonblock sitzen, auf dem fünf Sitzgitter angebracht sind, schmutziggelb, schmutzigrot, schmutzigweiß, schmutziggrün und braun, das ist gut zu erkennen, denn alle die da sitzen tragen Hosen und so ist im Schritt die Farbe des Sitzgitters zu sehen. Vier Mädchen und ein Junge sitzen da, halb um mich herum, wie in einem kleinen antiken Theater. Sie starren mich an. Der Junge sitzt in der Mitte, er trägt eine Cordhose in Jägergrün, sie ist sehr eng und man kann sehen, wie der arme kleine Penis eingeklemmt ist und die armen Hoden ebenso. Bei den Mädchen, die Leggins tragen wie früher nur die Engländerinnen, sieht man den Schlitz, und auch der Schlitz wirkt eingeklemmt, auch wenn die Hosen elastisch sind, und auch bei mir wäre, obwohl ich eine blaue Jeans trage, der Schlitz zu erahnen, doch ich habe meine Tage und mir eine Binde in den Slip geschoben, die mir meine Mutter gegeben hat heute morgen. Sie ist ganz rot geworden dabei.

Du weißt schon, hat sie gesagt, und dass ich heute die weiße Hose nicht tragen soll, nicht tragen darf. Eine gute Gelegenheit auch, die weiße Wäsche zu machen, sagte sie noch, bevor sie sich in Luft auflöste.

Bis später, Mama, sagte ich.

Und wie heißt ihr, frage ich in die Halbrunde.

Du bist die Neue, fragt es zurück wie aus einem Mund.

Ja, sage ich und spüre, wie sich meine Füße nach innen drehen, bis die Schuhspitzen sich berühren.

Der Junge in der Mitte spreizt die Beine und drückt so die Mädchen ein wenig zur Seite.

Ehj, sagen alle vier.

Ich heiße Spreizer, sagt der Junge ernst, und das ist Mimi, das ist Kiki, das ist Bibi und das Vivi.

Hallo, sage ich und gebe Spreizer, Mimi, Kiki, Bibi und Vivi die Hand. Das machte man früher im Osten so, das hat der Regisseur in der Vorbesprechung mehrmals gesagt, und dass damit dann die Szene endet.

Cut, brüllt einer, danke, ein Rumoren beginnt und ein Getuschel, etwas quietscht metallisch. Ich schiebe meine Hand in meine Hose und ziehe die Binde heraus, rieche daran und werfe sie mit Schwung Spreizer ins Gesicht, der sie achtlos und ohne mit der Wimper zu zucken zu Boden fallen lässt. Dann gehen wir uns in dem Wohnwagen ganz hinten in der Halle abschminken und verwandeln uns wieder in Erwachsene. Nur Bibi bleibt wie sie ist, und Spreizer auch, irgendwie. In Wirklichkeit heiße ich ebenfalls Dudu, nicht aber Duygu.

=> Drittes Kapitel

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Norbert W. Schlinkert: JEDER PFIRSICH Erzählender Essay, vulgo Roman: Erstes Kapitel.

Norbert W. Schlinkert

JEDER PFIRSICH

Erzählender Essay, vulgo Roman

Erstes Kapitel

Wir stehen in der entscheidenden Schlacht. Es geht um Material und es geht um Quantität. Auch das Gute, das Schöne, das Menschenfreundliche benötigt Menge und Masse, so viel davon wie möglich. Warum? Weil das Böse, das Hässliche und Abstoßende aus dem vermeintlichen Nichts heraus ungeheure Mengen an Mist erzeugen kann, das Gute und das Schöne aber nur über begrenzte Ressourcen verfügt. Sehr begrenzte. Merken. Ich überlege, ob ich statt des Punktes nach Merken ein Ausrufezeichen setzen soll. Ich lasse es bleiben, weil ich nicht rufe. Sagen reicht: Die Künstliche Intelligenz lernt aus allem, was im Netz steht, und je mehr bösartiges Zeugs sie findet, desto mehr arbeitet die KI damit, bis sie schließlich ganz emotionslos und wie selbstverständlich mit ihrem Können und Wissen die Macht übernimmt über die Menschheit. Da hilft dem Menschen dann irgendwann nur noch, sich selbst in die Steinzeit zu versetzen, indem er alle Energie kappt, um der KI den Lebenssaft zu entziehen. Gesagt werden muss zudem, wie sehr das Böse auch im Guten fest verankert ist, in die Eingeweide ist es eingewachsen, und wie böse und zerstörerisch ich selbst in meinen Gedanken agiere, auch wenn ich nicht das geringste Verständnis aufbringen möchte für die Bösartigkeiten anderer. Alle Schriftsteller sind inwendig böse, auch das sei gesagt, egal wer sie oder was sie sind, sie gehören, um überhaupt schreiben zu können, unzweifelhaft dem Bodensatz des Daseins an. Doch sie sind alle auch einzeln, vereinzelt, je eine Zelle nur. Während das WordWideNet aber allen in der Tat bösen Menschen dieses Planeten unendlich scheinende Möglichkeiten des Handelns ermöglicht, profitiert kein einziger Schriftsteller vom weltweiten Netz, ganz im Gegenteil schadet ihm der ganze Unsinn immens. Doch sind da nicht auf den Buchmessen des Landes zehntausende Bücher materialhaft am Ort des Geschehens präsent, inbegriffen die paar Dutzend, die es auf die Bestsellerlisten schaffen und also gekauft und womöglich auch gelesen werden? Ja, schon, sage ich, aber das ist unerheblich und nichts weiter als Umweltverschmutzung. Doch nun endlich zur Handlung, die im zweiten Kapitel losbricht. Oder loszubrechen scheint.

=> Zweites Kapitel

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Norbert W. Schlinkert: JEDER PFIRSICH. Erzählender Essay, vulgo Roman: Vorbemerkung.

Norbert W. Schlinkert

JEDER PFIRSICH

Erzählender Essay, vulgo Roman

Vorbemerkung

Ich schwanke. Soll ich das, was ich zu erzählen habe, humorlos und bitterernst oder aber frisch, frech, frei und fröhlich niederschreiben? Zur Niederkunft bringen. Einige der von mir am meisten bewunderten Schriftsteller, es sind alles Männer, tun es ausschließlich auf die ernste Weise, Hans Henny Jahnn zum Beispiel oder, als lebendes Exemplar, Jon Fosse, andere aber schreiben zumeist frischgemut freche, freie, fröhliche und abgründige Texte, etwa Flann O’Brien oder Samuel Beckett, so dass ich mich schlecht entscheiden kann, denke ich an diese Autoren. Denke ich an mich selbst, so stelle ich fest, nichts Witziges oder Absurdes schreiben zu können, ohne es zugleich vollkommen ernst damit zu meinen. Todernst. Bitterernst. Albernes Zeug ist mir zuwider. Und Schluss.

=> Erstes Kapitel

 

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Kim de l’Horizon hat für essen Roman „Blutbuch“ den Deutschen Buchpreis 2022 erhalten!

Kim de l’Horizon hat für essen* Roman „Blutbuch“ den Deutschen Buchpreis 2022 erhalten! Glückwunsch! Kim widmet den Preis, so das Börsenblatt, den Frauen im Iran – und dies mit einer überraschenden Performance. Die Performance bestand darin, sich mit einer Haarschneidemaschine die Kopfbehaarung wegzurasieren. Kann man machen, habe sogar ich schonmal gemacht, eine Kunstaktion zusammen mit anderen Künstlern in der Schwerter Fußgängerzone, mit Musik und allem Zipp und Zapp. Muss so 1984 gewesen sein und kam eher nicht gut an, wahrscheinlich weil es der Kleinstadt im Ruhrgebiet an einem Bildungsbürgertum mangelte. Letzteres ist, wo vorhanden, natürlich leicht zu begeistern, man klatscht ja so gerne, und dann liest man das Buch „Blutbuch“ aus dieser fremden Welt mal so weg, bekommt dabei womöglich und ganz naturgemäß feuchte und erigierte Geschlechtsteile, und dann hat man ja auch etwas zu bereden beim nächsten Event, Sie wissen schon, was ich meine, und ja, die in der bürgerlichen Blase wissen immer, was sie meinen, und sie klatschen ja auch so gerne, und dann kommt aber auch schon der Buchpreis 2023, und natürlich ist man dann wieder begeistert und so weiter und so weiter. In genau einem Jahr wird das „Blutbuch“ diesem Publikum demzufolge vergessen sein, das ist sicher, denn man klatscht nicht nur gerne, man vergisst auch gerne. Ob das Buch als Kunstwerk jenseits bürgerlicher Buchpreise bleibt, hängt nun aber von der Qualität des Buches, des Textes ab, worüber ich aber nichts zu sagen weiß, bevor ich es nicht in die Hände bekomme und lesen kann. Vielleicht sollte ich mir ja bei Dumont ein Rezensionsexemplar bestellen, könnte ja sein, ich kriege sogar eins.

* Natürlich geht „essen“ garnicht, oder es geht nur insofern, als dass es mir ohne weiteres Überlegen in den Kopf kam und es dementsprechend mal ausprobiert werden kann, sollte, ja muss – wozu sonst ist ein literarisches Blog sonst da! Näheres siehe hier => Weiterlesen
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Als Vorwort getarntes Nachwort eines noch ungeschriebenen Werkes

Lange Zeit dachte ich bei der Zahl 1000, in Worten: Tausend, ausschließlich an tausendjährige Zeiträume. Der Hoffnung, des Grauens, was und wie auch immer. Hier und da rückten zwar auch tausendjährige Eichen in mein Bewusstsein und die Tausendjahrfeiern der ein oder anderen Stadt, aber das blieb immer nebensächlich. Dann aber sprang mich der erste Tausendseiter meines Lebens an, ein berühmter Roman, den ich mir mit Herzklopfen vornahm und am Ende, mit einigen Schwierigkeiten, auch zu fassen bekam. Ich las ihn bis zum Ende durch. Darin war, so schien mir, keine Zeile, kein Wort, kein Satzzeichen zu viel oder zu wenig. Das sollte mir immer Maßstab bleiben, beim Schreiben wie beim Lesen, ganz gleich, wie lang ein Text ist. Im Laufe der Zeit kamen mir dann immer mehr Tausendseiter unter, die alle berühmt sind. Ich las allerdings durchaus nicht jeden Roman dieser Größenordnung durch, denn ich habe mit zunehmendem (Lese-)Alter das Überflüssige immer besser zu erkennen gelernt und manch falschen Tausender unausgelesen zur Seite gelegt. Auch gibt es, das sei gesagt, durchaus nicht selten mittels einer übergroßen Schriftgröße zu Tausendern aufgeblasene Sechs- oder Siebenhunderter, und nicht zuletzt dieses Phänomen machte mir klar, wie erstrebenswert es für manche sein musste, einen tausendseitigen Roman zu erschaffen. Mir allerdings kam diese Idee, die Vermählung von Qualität mit einer vorgegebenen hohen Quantität, niemals nahe genug, um sie mit aller Ernsthaftigkeit anzugehen. Was hielt mich ab? Vielleicht die Idee, es könne sich um Größenwahn handeln? Doch würde sich dieser, wenn denn (notwendigerweise?) vorhanden, nicht während des Arbeitsprozesses vollends abnutzen müssen? Würde sich das Werk denn nicht letztlich über den Autor erheben, ein vollständiges Gelingen vorausgesetzt? In jedem Fall dachte ich lange darüber nach, ob ich denn einen Tausendseiter schreiben will, ob ich mich darauf mit Lust einzulassen bereit bin, und siehe da: ich weiß es immer noch nicht. Vielleicht sollte ich erst einmal mit einem Vorwort beginnen, denke ich, oder mit einem als Vorwort getarnten Nachwort – und dann sehen wir weiter …

Norbert W. Schlinkert. Polaroid 17

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Burgundische Weinelfen, frisch geschlüpft

Ich habe seit ewigen Zeiten den Eindruck, dass man als berufsmäßiger Schriftsteller eines können muss – sich nämlich beim Schreiben der eigenen Texte zu langweilen. Das ist natürlich in jedem Beruf so, das mit der Langeweile, so wie man in jedem Beruf fleißig zu sein hat, ganz gleich, ob man der protestantischen Arbeitsethik verfallen ist oder dem Neoliberalismus oder sich frei dünkt. Viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen schreiben dementsprechend viele, viele Seiten voll, weil sich heutzutage so gut wie alles Roman schimpfen lassen und dick sein muss und sich Erzählungen oder Gedichte eben nicht gut verkaufen lassen. Wer so verrückt ist, einen Text von 120 Seiten nicht Roman, sondern etwa heraklitischen Fließtext zu nennen, ist schon raus aus dem Geschäft. Dabei wäre es, um mal bei diesem Beispiel des heraklitischen Fließtextes zu bleiben, ein Einfaches gewesen, daraus einen „richtigen“ Roman zu machen, mit allem Zipp und Zapp und marktgerechtem Umfang – wenn ich denn die Fähigkeit besäße, mich beim Ausüben meines Berufes ordentlich zu langweilen und ordentlich Fülltext hineinzuquetschen, die Handlung also übermäßig aufzublasen und so weiter. Jetzt möchte man einwenden, aber das hieße doch noch lange nicht, dass sich der Leser oder die Leserin beim Lesen eines aufgeblasenen Textes langweilt, und ja, richtig – so ist es. Man muss bedenken, dass Leser und Leserinnen ihre eigenen Absichten haben, und dies natürlich ganz zurecht. Ein Dilemma, eine Nummer, aus der ich nicht herauskomme, es sei denn, mein historischer Roman ANKERLICHTEN oder: DES HERRN DAUBENFUßES RACHE, bei dem weder ich mich ihn schreibend gelangweilt habe noch sich der Leser langweilen wird, fände endlich einen Verlag und damit hinaus in die Welt – denn dann wäre es mir gelungen, einen markt- und leserfreundlichen Roman herauszubringen, zu gebären, der mich nicht eine Fitzelsekunde Langeweile kostete, so oft ich ihn auch schon überarbeitet habe. Stand jetzt ist zu sagen, da ist auf 400 Seiten kein Buchstabe, kein Punkt, kein Komma zu viel oder zu wenig drin, da darf mein Name draufstehen. Bei der bisher letzten Durchsicht des Romans im Sommer habe ich übrigens in der mich umgebenden Welt noch etwas anderes, überaus Spannendes entdeckt, denn direkt neben mir, in einem brandenburgischen, wilden Gewächs, schlüpften soeben Burgundische Weinelfen, die, kaum in der Welt, auch schon fröhlich flatternd das Weite suchten.

Norbert W. Schlinkert. Burgundische Weinelfen, frisch geschlüpft

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Tasten: heran, hinein, hinauf, hinab … II

Der (gleichsam inliegende) Text von Tasten: heran, hinein, hinauf, hinab … I ist inzwischen vernichtet, er bedeutete einen Anfang, dem kein Fortgang folgte. Hier ein neuer Versuch:

Was hat man schon zu erzählen, wenn man nicht in der DDR aufgewachsen und auch sonst dem Schicksal entgangen ist. Dem Schicksal entgangen zu sein ist allerdings keine Belohnung für irgendetwas, sondern in meinem Falle, der ich hier schreibe, schlicht dem Umstand zu verdanken, das allermeiste aus dem eigenen Leben vergessen zu haben. Dem Schicksal fehlt es, ergo, an Nachhaltigkeit, oder Nachhalligkeit, ganz wie man will. Sicher, wenn ein Pinguin an sich runterguckt, sieht er Watschelfüße, während ich, gucke ich an mir runter, Menschenfüße sehe, mit denen ich einst gut Fußball spielen konnte. Zusammen mit meinem Killerinstinkt und einer gewissen Rücksichtslosigkeit im Zweikampf, entschuldigen kann man sich ja schließlich immer noch, hätte das sicher für die zweite Liga gereicht. Aber vorbei, ganz unabhängig davon, ob ich es nun in die zweite Liga geschafft habe oder nicht. Die erste Liga, überlege ich es mir recht, wäre sicher auch drin gewesen. Aber vorbei ist vorbei. Im Unterschied zum Pinguin aber, der vollständig kann, was er kann und der vollständig ist, was er ist, bin ich als Mensch immer nur der Prototyp meiner selbst, ein ewiges Versprechen auf das, was ich können könnte und sein könnte. Der Mensch ist Potentialist, vor allem nachdem der letzte Universalgelehrte nun endlich gestorben sein dürfte. Zudem gilt, zumindest mir, jeder neue Tag als ein neues Leben, und da dürfte es schwer sein, sich selbst vollkommen auszuschöpfen in gerade mal 24 Stunden, in 1440 Minuten. Und selbst wenn man es schaffte, an einem Tag einen schönen Fortschritt zu generieren, so ist davon am nächsten Tag nichts übrig, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil der gemeine Mensch und so auch ich des Abends sich noch allerlei reinpfeift, Suchtmittel der Sorte Fernsehserie oder Talkshow oder Alkohol oder Tabak oder alles zusammen. Vollkommen abzuraten ist indes vom Lesen eines Romans im Bett, das vernebelt, verdunkelt, verdirbt und zerstört alles Errungene am allerehesten. Wer nicht komplett verblöden möchte, der liest am Tag: im Büro, im Zug, in der Badewanne, auf einer Parkbank oder beim Flanieren, so wie die Mönche. Im Bett wird geschlafen und geträumt. Aber natürlich ist es, um Potentialist zu bleiben, unbedingt notwendig, ausschließlich gute Literatur zu lesen, analog zu der Notwendigkeit, gute Filme zu sehen, gute Musik zu hören, sich gute Bilder anzusehen und so weiter. Doch wie können Sie wissen, ob es sich um gute Literatur, gute Filme, gute Musik, gute Bilder und so weiter handelt? Das immerhin ist gut zu merken: verspüren Sie einen Widerwillen beim Lesen des ersten Satzes eines Romans, oder wird Ihnen schlecht, so ist es ein schlechter Roman und sollte nicht gelesen werden. Verbrennen Sie ihn, damit er kein Unheil anrichten kann. Tun Sie dasselbe mit schlechten Filmen, schlechter Musik und schlechten Bildern. Dann wird alles gut.

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Tasten: heran, hinein, hinauf, hinab … I

Immer wenn ich Texte ins Leben hinausgelassen habe, sie also gedruckt und damit fix & fertig sind, stelle ich mir vor, nichts Weiteres mehr schreiben zu können. Aus dieser Vorstellung heraus finde ich mich dann jedesmal in einem neuen Text wieder, der nicht zwingend Bestand haben muss, aber ein Beginn ist aus dem Nichts heraus:

Still, so schreibt einer, ist der Grund meines Meeres, und da dieser Satz auf Deutsch geschrieben ist, begreife ich das Wort Grund in doppelter Weise. Als Meeresboden und als Ursache. Und da ich diese beiden Begriffe auf Deutsch schreibe, begreife ich wiederum den zweiten Begriff als Grund allen Seins am Beginn aller Zeiten. Als Ursprung. Und da auch dieser Begriff ein deutsches Wort ist, erkenne ich darin den Sprung vom Nichtsein zum Sein. In’s Sein hinein. Was soll ich sagen: da bin ich nun und trete als Kind vor die Haustüre und erkenne, ich bin ich. Ein Ich. Seither denke ich diesen Satz jedes Mal, wenn ich aus dem Haus gehe, aus welchem auch immer. Ich bin ich. Die Anderen dort draußen sehen mich und mein Meer spiegelglatt oder bewegt oder gar schäumend, in die Tiefe aber sehen sie nicht, von der Stille wissen sie nichts, von all dem zwischen Grund und Schein wissen sie nichts. Selbst wenn auch sie, die Anderen, eine Stille in sich beherbergen, wissen sie nichts über mich und meine Stille. Auch ich sehe nur das Bild eines Gegenübers, und selbst wenn ich ihn zu ergründen trachte, so bleibe ich doch an der Oberfläche, es sei denn, dieser Mensch …

So geht es also los, und ich weiß natürlich, wer in welchem Buch den einleitenden Satz schrieb, der sich weiter fortwindet (Still ist der Grund meines Meeres: wer erriethe wohl, dass er scherzhafte Ungeheuer birgt! Unerschütterlich ist meine Tiefe: aber sie glänzt von schwimmenden Räthseln und Gelächtern)*, doch ich weiß auch, dass ich dieses ganze Buch nicht mag, es ist wichtig und berühmt, aber von schlechtem Stil, es ist durchdrungen von Pathos, von deutschem Pathos, es dröhnt statt zu klingen, es ist das überhobenste, misslungenste aller berühmten Bücher, und doch ist da dieser eine Satz, Still ist der Grund meines Meeres, der mir heute aus dem Nichts heraus den ersten Schritt möglich macht in einen neuen Text, der nun der Welt zwingend etwas hinzufügen muss, ansonsten er wieder verschwinden wird in seinem Nichts. Ein Anfang aber ist gemacht.

*Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883–1885). [Zweither Teil: Von den Erhabenen]
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Norbert W. Schlinkert: Die Hoffnung stirbt immer am schönsten

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Die Hoffnung stirbt immer am schönsten. Arbeitsjournal. Herausgegeben von Arnold Maxwill. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022. 279 Seiten. ISBN: 978-3-8498-1841-8

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