Geld in Büchern

Die Diskussion geht weiter. Die Frage, wie das Lesen von Texten für alle ein Gewinn sein kann, ganz gleich, wie und wo sie erscheinen, bleibt aktuell. Auf den ‚Berliner Buchtagen‘ hat sich Sibylle Lewitscharoff offensichtlich für die Praxis eingesetzt, vierzehnjährige Kinderzimmer-Downloader anwaltlich abzumahnen. Andere sollen den kommenden Lesergenerationen „Schwarmdummheit“ (Imre Török) vorgeworfen oder ihnen eine „Aufmerksamkeitsdefizitkultur“ (Michael Krüger) attestiert haben. Das schreibt heute in der Süddeutschen Zeitung Felix Stephan in seinem Beitrag zu besagten Tagen („Das gab es früher nicht. Berliner Buchtage: Die Branche kämpft mit der Digitalisierung, weil sie an die falschen Fronten glaubt.“ SZ, 23./ 24.06. 2012). Hört sich fast an, als stellten Opfer eine Kollektivschuld fest für alle, die womöglich ein paar Dinge im Leben anders machen (wollen oder müssen) oder anders sehen. Was soll man dazu sagen?

Ich jedenfalls habe mir gestern Ein Porträt des Künstlers als junger Mann von James Joyce bestellt, und zwar in der Neuübersetzung durch Friedhelm Rathjen. Da eine Textprobe des neuen Textes im Netz zu finden war, nahm ich ganz neugierig die ältere Übersetzung von Klaus Reichert aus dem Regal, um den Anfang zu vergleichen. Und was passiert? – es fällt ein 5-D-Mark-Schein aus dem Buch, denn die habe ich früher ebenso wie irische Geldscheine gerne als Lesezeichen genommen. Damals steckte also noch Geld in den Büchern. Warum dann heute nicht mehr – angeblich? Da muß sich doch etwas machen lassen, denke ich, etwas Schlaues, das über die Leserbeschimpfung hinausgeht. Vielleicht die Installierung legaler Möglichkeiten, jede Art digitalisierbarer Kunst zu kaufen, auch in Deutschland! Das schlägt Herr Stephan vor. Wäre ja was, würde ich mal sagen, doch eigentlich habe ich gar keine Lust zu diskutieren, denn ich hab ja noch so viel zu lesen und zu schreiben, hier wie dort. Geld darf dabei natürlich gerne rausfallen.

 

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Rückwärts einsprechen

Immer wieder gerne wird die Mann-Frau- bzw. Frau-Mann-Diskussion geführt. Da werden die Bänder der Videoüberwachung eines Parkplatzes analysiert mit dem Ergebnis, daß Frauen besser einparken können. Voraussetzung dafür ist auch, daß die Überwacher die Fahrzeuglenker und Fahrzeuglenkerinnen eindeutig erkennen können, dem Geschlecht nach. Eine andere, ganz ähnliche Analyse andernorts kommt dann zu dem Ergebnis, daß Männer besser einparken können. Da stehen also am Ende Zahlen gegen Zahlen – Unfälle, Lackkratzer, schief oder gerade eingeparkt und so weiter. Was aber auf jeden Fall klar ist und bleibt, Männer und Frauen parken auf gar keinen Fall gleich ein, denn mit einer fehlenden Abweichung könnte kein Mensch leben. Das gilt übrigens auch für alle anderen Bereiche des Lebens, nicht zuletzt für die Literatur, wenn auch hier leider noch belastbare Daten fehlen – doch das ist nur eine Frage der Zeit, denn etwas auszuwerten gibt es natürlich immer, zum Beispiel dann, wenn die Frage gestellt wird, Autor oder Autorin? Frau oder Mann? Fehlt nur noch wer, der aus dem Buchstabensalat eine Statistik macht.

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Gesprächsweise

Ich rede fast täglich mit Menschen, die nicht mehr unter uns weilen, beziehungsweise weilen wir nicht unter denen. Das hat nichts zu tun mit Mystischem, sondern mit dem Lesen. Es gibt unterschiedliche Arten, mit Texten umzugehen, sie zu erleben, sie in sich aufzunehmen. Für mich ist Lesen Zwiesprache mit dem Autor oder der Autorin. Das stellt sich einfach so ein. Das Schöne daran ist, daß eine Gleichzeitigkeit entsteht. Die Hauptzwiesprache der letzten Zeit war die mit Robert Musil. Gestern las ich seine kleine Erzählung ‚Pension Nimmermehr‘. An einer Stelle schreibt er über eine Dame aus Wiesbaden, an die er sich nicht mehr recht erinnern kann: „Ich weiß nur noch, daß sie immer einen der Länge nach gestreiften Rock trug, so daß sie aussah wie ein großes Holzgatter, auf dem oben eine ungeplättete weiße Bluse hing.“ Da lachten wir, der Musil und ich. Die Dame lachte nicht.

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Das literarische Weblog als Nachlaß zu Lebzeiten!

Ja, es gibt sie noch, die guten alten Leser und Leserinnen. Sie alle lesen, das ist nicht weiter überraschend, Texte – was sonst. Klar, man kann sich auch an der Weinlese beteiligen, doch das ist etwas ganz anderes. Texte also. Es gab vor einer Weile die pejorative Äußerung einer hochgehandelten Schriftstellerin über diejenigen Leser, die nicht den auf Papier gedruckten Text bevorzugen, sondern den, na ja, nicht gedruckten. Ich lese im Moment mit dem größten Vergnügen „Nachlaß zu Lebzeiten“ von Robert Musil und habe dabei gerne ein Buch in der Hand. Natürlich, so richtig gedruckt ist das auch nicht mehr, das Digitale zeigt sich ein wenig in der glatten Oberfläche des Papiers, das sich eben genau so anfühlt, als sei es ohne Text. Doch gleichviel, Text bleibt Text, da beißt die Maus kein‘ Faden ab.

Robert Musil schreibt in seiner Vorbemerkung übrigens: „Warum Nachlaß? Warum zu Lebzeiten? Es gibt dichterische Hinterlassenschaften, die große Geschenke sind; aber in der Regel haben Nachlässe eine verdächtige Ähnlichkeit mit Ausverkäufen wegen Auflösung des Geschäfts und mit Billigergeben. (…): ich habe jedenfalls beschlossen, die Herausgabe des meinen zu verhindern, ehe es soweit kommt, daß ich das nicht mehr tun kann. Und das verläßlichste Mittel dazu ist, daß man ihn selbst bei Lebzeiten herausgibt; mag das nun jedem einleuchten oder nicht.“

Die Texte dieses Büchleins sind übrigens oft wunderbare kleine Arbeiten, die im ersten Drittel des 20. Jahrhundert verstreut erschienen und dann gebündelt worden sind zwischen zwei Buchdeckeln, weil der Autor selbst sie in trüben Zeiten retten wollte, verfügbar machen wollte, weil sie es ihm wert waren. Heutzutage würde Robert Musil vielleicht ein literarisches Weblog führen, die Texte also gleichsam digital retten, bevor sie dann – vielleicht – doch noch gedruckt würden. Oder eben auch umgekehrt, er würde vergriffene Texte auf seiner Seite einstellen. Das mit dem musilschen Weblog ist naturgemäß nur Spekulation, doch was der ein oder andere führende Literat dazu sagen würde, das kann man sich trotzdem denken.

Ich lese jedenfalls in literarischen Weblogs, die ja zum Glück hier und da gebündelt und gesammelt werden und die tatsächlich etwas haben von einem Nachlaß zu Lebzeiten in dem Sinne, wie es Robert Musil beschrieb; man denke an Die Dschungel oder an Gleisbauarbeiten, die sich trotz der Namensgebung keineswegs gegenseitig bekämpfen, und noch viele, viele weitere. Diese Art der Herausgabe von Literatur mag nun jedem einleuchten oder nicht, doch auch ich denke da ganz pragmatisch, denn warum warten, bis man tot ist. 

 

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Mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel meine Absicht

Die im 18. Jahrhundert implizit immer gestellte Frage ist die nach der Möglichkeit eines von Gott unabhängigen oder von Gott gelösten Daseins. Selbst ein streng geregeltes gottgefälliges Leben, wie es Quietisten, Pietisten, Calvinisten und andere Gottgläubige in unterschiedlichster Ausprägung lebten, ließ ja immer auch den Gedanken an ein Leben außerhalb zu, wie dies allein schon durch die Möglichkeit des Verstoßes aus der Gemeinschaft (Gottes) zutage trat. Es lag und liegt nahe, solch eine aufgrund von Verfehlungen ausgesprochene „Vertrei­bung aus dem Paradies” auch als eine Nötigung oder gar Verurteilung zur Selbstverantwortung buchstäblich aus der Bibel zu lesen. So ist es offensichtlich, daß der Mensch auch als Ausgestoßener ein Sein hat und daß er unabhängig zu denken und zu handeln vermag. Die von René Descartes bereits 1637 formulierte These des (allein auf das Verstandesvermögen bezogene) cogito, ergo sum findet ihre Ausgestaltung und Verlebendigung somit auch im reflektierten Erleiden des Daseins, in der Erkenntnis, daß das tatsächliche Leben uneindeutig ist, seinen Kern aber im subjektiven Selbst hat. Diese Seinsgewißheit eines im Leiden aufgehobenen Denkens, das Erkennen der Zweifelhaftigkeit der Welt von einem Standpunkt zwischen Geist und Körper, Seele und Leib aus, kann mit einiger Berechtigung als Wende hin zu einer neuzeitlichen Sichtweise angesehen werden. So wurde durch diesen intensiven und neuartigen Discours nicht zuletzt ein wissenschaftliches Methodenbewußtsein erst ermöglicht, und auch für die Literatur ergab sich eine neue Grundlage, indem aus der Sichtweise eines Ich nicht nur äußeres Geschehen zu berichten war, sondern vielmehr auch der Prozeß eines inneren Werdens des Individuums in der Zeit faßbar gemacht werden konnte.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts findet die Beschäftigung mit dem Ich, dem Selbst, dem Individuum eine neue Form im Roman, aber auch die Ideen der Französischen Revolution von 1789 führen zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit. Exemplarisch dafür steht, neben vielen weiteren Texten, das (später so benannte) Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (nach 1790; von Franz Rosenzweig entdeckt und 1917 erstmals veröffentlicht). Dieses Fragment eines Entwurfs, verfaßt von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Friedrich Hölderlin und Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Zeit des gemeinsamen Studiums im Tübinger Stift, benennt wesentliche Ideen, die in der Philosophie und der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts in vielfacher Gestalt ihre Ausformung finden. Die erste dieser im Systemprogramm benannten Ideen, die den Verfassern zugleich als praktische Postulate gelten, ist die „Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen und als die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nichts”. Diese Vorstellung wird strikt verknüpft mit der alles vereinigenden Idee der Schönheit, die letztlich als ein Akt der Vernunft zu verstehen sei. Zudem wird die Hoffnung ausgesprochen, die Poesie werde am Ende als einzig verbleibende Wissenschaft wieder Lehrerin der Menschheit sein. Dieser hohen Stellung der Poesie entspricht die gleichzeitig geforderte Mythologie der Vernunft als einer neuen Mythologie im Dienste der Ideen. Im Roman zeigt sich dieses gleichsam neu entdeckte schöpferische Element des „absolut freien Wesens” unter anderem in Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96). Hier ist die Kontinuität des Wilhelm Meister als ein sich selbst gewisses, „niemals wechselndes Ich” folgerichtig Grundlage seiner Existenz, welche zugleich darauf beruht, ständiger (und oft auch bewußt reflektierter) Veränderung unterworfen zu sein. Die Existenz des Ich ist getragen von aktiver Lebensgestaltung, die der Leser einfühlend nachvollziehen kann. Zu der in den Roman eingewobenen Lebenshaltung werden allerdings nicht etwa theoretisch-philosophische Abhandlungen des Autors hinzu­addiert; vielmehr spricht Wilhelm selbst, so in einem Brief an seinen Schwager. Hier bekennt er offen den Hauptantrieb seines Lebens, wenn er schreibt: „Mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht”.

Neben Goethes Wilhelm Meister geben andere herausragende Romanwerke eine Ahnung davon, wie sehr die Frage nach dem Ich die Menschen an der Wende des 18. zum 19. Jahrhunderts bewegt. So ist das Romanfragment Heinrich von Ofterdingen (1802) des Novalis Ausdruck einer – zeitlich ins Mittelalter verlegten – Sehnsucht, ein (poetisches) Ich durch Aneignung und Durchdringung der Welt zu entwickeln, getragen von einer Gemeinschaft Gleichgesinnter. Doch nicht nur das Werden im Sinne eines Sich-Bildens und Lernens hin zu einem insgesamt gelingenden Leben findet Eingang in den anspruchsvollen Roman der Zeit, sondern auch das Moment der Deformation des Ich. Dieser Aspekt, von Adam Bernd und Karl Philipp Moritz mehr oder weniger autobiographisch und somit gleichsam eins zu eins gestaltet, auch bereits von Goethe in Die Leiden des jungen Werther (1774) eindrücklich „dokumentiert”, wird aber erst mit Jean Pauls Siebenkäs (1796/97) und Titan (1800-1803) als metaphorische Deformation ins fiktive Romangeschehen sinnstiftend integriert. Gleiches gilt für Friedrich Hölderlins Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797-99). So findet, neben dem Selbstmord aus Haß, Liebe oder Daseinsekel, auch der fast alltäglich gewordene Wahn- und Irrsinn einer lebendig erscheinenden Romanfigur Eingang in die Literatur. Insbesondere in Jean Pauls Romanen ist die Ich-Spaltung in jeder denkbaren Form (natürliche Zwillinge, selbstentworfenes Zwillingstum zweier Freunde, aber auch Schizophrenie und damit einhergehend die zwanghafte Verfolgung durch das eigene oder auch das „absolute” Ich) ein sinntragendes Handlungsmoment.

Daß diese Bedrohung des Ich durch die Zerrüttung des Geistes nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigt zum einen der Anteil der einer Geisteskrankheit tatsächlich anheimgefallenen Dichter der Zeit, etwa Johann Karl Wezel (1747-1819) oder Friedrich Hölderlin (1770-1843), aber auch die Etablierung des Irrenhauses als notwendige Institution in vielen Städten Europas. Wenn auch die erste offizielle „Psychische Heilanstalt für Geisteskranke” im deutschen Sprachraum erst Anfang des 19. Jahrhunderts in Bayreuth gegründet wurde, so bestand die Praxis des Wegschließens von Verhaltensauffälligen in spezielle Häuser doch bereits seit Jahrhunderten. Neu war allerdings der Ansatz der Heilung, ganz entgegen der u. a. von Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798/1800) vertretenen und auch allgemein verbreiteten Ansicht, der Wahnsinn sei letztlich nicht erforschbar und damit auch nicht heilbar. Die Idee, daß wenigstens ein Teil der Kranken zurückgeführt werden könne zu einem „normalen” Dasein, der Wahnsinn also nur temporären Charakter hat und damit heilbar ist, wird unter anderem von dem Franzosen Philippe Pinel (1745-1826) vertreten, der empirisch und klinisch vorging, ganz im Sinne einer Doktrin der Vernunft. Ein anderer, eher philosophisch-romantisch anmutender Ansatz stammt von Johann Christian Reil (1759-1813), dessen Schriften jedoch auch grundsätzlich von einer möglichen Heilbarkeit des Wahnsinns ausgehen. Einerseits wurde die Deformation des Ich so zwar immer noch und immer wieder als quasi endgültig institutionell beglaubigt, viele (auf welche Art und Weise auch immer) Deformierte kamen nach wie vor ins Irren-, Zucht-, Armen-, Toll- oder Arbeitshaus, andererseits aber wurde ebenso offiziell eine Möglichkeit der Verbesserung, ein Wer­den zum Guten hin aufgezeigt, wenn der Wahnsinnige in eine „Psychische Heilanstalt für Geisteskranke” gebracht wurde. Dem gewachsenen bürgerlichen Selbstbewußtsein stand so immer, quasi als offen sichtbares Regulativ, der Wahnsinn als eine Form der Deformation gegenüber, denn die Gefahr, durch Krankheit oder Unglück aus der Mitte der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden, war allgegenwärtig. Diese Aufmerksamkeit führte bald schon nicht nur zu einem verstärkten literarischen Interesse am Wahnsinn und am Randständigen überhaupt, auch der Irrenhausbesuch gehörte gegen Ende des 18. Jahrhunderts, auch für Damen der Gesellschaft, unabdingbar zu einer Be­sichtigungstour durch eine fremde Stadt. Offensichtlich wollte man diejenigen, die eines (vermeintlich) stabilen Ichs verlustig gegangen sind, unbedingt einmal betrachten.

Es kann, bei aller oberflächlichen Neugierde, durchaus von einer zunehmenden, allgemeinen Furcht vor dem Wahnsinn ausgegangen werden, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts noch verstärkte. So faszinierend diese fremde und unbegreifliche Welt aber auch war, vor den Irren selbst wollte man sich letztlich mehr und mehr schützen. Es ist sicher auch nicht übertrieben, von der großen Gefangenschaft zu sprechen, vor allem da neben tatsächlich geisteskranken oder gefährlichen Personen recht undifferenziert auch Bettler und Landstreicher und überhaupt mittello­se Per­sonen eingesperrt wurden, sobald sie in irgendeiner Form auffielen. Diese Obrig­keitswillkür in der Beurteilung von Personen und Handlungen diente ohne Zweifel nicht nur der Unschädlichmachung des Wahnsinns in seiner pathologischen Ausprägung, sondern auch der Bekämpfung der Unvernunft als solcher, die in der parallel zum Pietismus sich entwickelnden (Früh-) Aufklärung ein nahezu gleiches Abschreckungspotential hatte wie der Teufel als des Gegenteils vom „lie­ben” Gott. Während aber in der Kunst und besonders in der Literatur eine besondere Neugier in bezug auf alles Nicht-Vernünftige und Abseitige zu verzeichnen war, bei Jean Paul und E.T.A. Hoffmann findet sich je eine stattliche Personage von sehr unterschiedlichen „Verrückten”, sollte in der Realität alles nach den Regeln der Vernunft und vor allem auch nach denen der Sittlichkeit und der Tugend geschehen.

Das sich seit Beginn des 18. Jahrhunderts in Deutschland neu herausbildende Bürgertum sah nicht zuletzt in einer vernünftigen Lebensplanung einen Garant der Daseinssicherung. Der Glaube an Gott und die Ausübung der Religion bot hier zunächst die emotionale Grundlage für eine ethisch-moralische, an christlichen Werten orientierte Lebensführung. Die als wesentlich erkannte Aufgabe einer modernen Kindererziehung wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts schließlich ebenso verbindlich wie die Orientierung am mechanistisch-wissenschaftlichen Weltbild der Aufklärung, auch wenn hier durchaus unterschiedliche Mentalitäten zutage traten. Im Kern allerdings ver­langte der Aufklärungsgedanke die eigenständig handelnde, ausreichend gebildete Persönlichkeit, ein sowohl von den Erwartungen an die Offenbarungsreligion als auch von Unvernunft und Aberglauben befreites Selbst. Die Lebensziele des Bürgers bestanden in der Praxis somit eher in der Verwirklichung eines durch Zufriedenheit und Gewissensruhe geprägten Daseins; der Wille zu einer grundlegenden Veränderung der politischen Landschaft, wie Jahrzehnte später in der Revolution von 1848, war in den bürgerlichen Kreisen noch nicht zu erkennen.

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Brodelt’s, oder brodelt’s nicht?

Ende des Jahres 1988 sehe ich mich in einer kleinen Küche einer WG in Freiburg im Breisgau. Ich weiß bereits, daß ich bald dort ausziehen werde, um mich für eine Weile in der Dortmunder Nordstadt niederzulassen. Doch nicht wegen dieses Umstandes beklage ich mich, sondern darüber, daß wir in einer Zeit leben, in der nichts Revolutionäres geschieht. Ein Jahr später ist die Revolution in der DDR in vollem Gange. Das hätte ich mir denken können, denke ich heute, denn die 89 ist nunmal geschichtsträchtig. Die nächste Jahreszahl, die in Frage kommt, ist die 14, und da wir nun schon das Jahr 2012 schreiben, stellt sich die Frage, ob es schon brodelt, so wie es damals, vom Westen unbemerkt oder nicht zur Kenntnis genommen, in der DDR brodelte. Wir werden sehen, man darf gespannt sein! 

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Gründe genug, man bediene sich, doch nicht bei Aléa Torik

Ich habe heute irgendwie schlechte Laune, was natürlich kein Grund ist, die Welt ausgerechnet damit zu belästigen. Aber warum habe ich schlechte Laune? Wenn ich das nur wüßte! Also habe ich mich auf die Suche gemacht, das Geschirr abgewaschen, die Wäsche abgehängt und halbwegs ordentlich in den Schrank gelegt – hat aber nicht geholfen, also lag es nicht an nicht gemachter Hausarbeit. Danach habe ich einige Blogs durchforstet, selbst die von solcherart Mitstreitern, mit denen ich wenig oder nichts zu tun habe, doch da fand sich auch nichts, was einen Hinweis hätte geben können auf das, was in mir vor sich geht an Mißstimmung. Auf einem Blog hätte ich allerdings fündig werden können, wenn ich denn eine andere Grundauffassung zur Literatur und zu dem damit zu erzielenden Erfolg hätte. Vielleicht ist es das: es ist mir eine Spur zu egal, ob ich tatsächlich meine Ziele erreiche, das ist mein vermaledeiter optimistischer Fatalismus. Kann ich keinem empfehlen! Das Blog ist übrigens dasjenige von Aléa Torik, seit einer Weile im Dornröschenschlaf, wo ich etwas zum Ärgern hätte finden können. Aber nein: ich finde es ganz und gar nicht verwerflich, wenn eine junge deutschsprachige Autorin mit rumänischen Wurzeln die Vorteile nutzt, die sie nun einmal auf dem Markt hat, denn das versucht, ganz unabhängig von Herkunft, Sprache, Geschlecht oder Hautfarbe, schließlich jeder mit seiner eigenen Schreibe. Immerhin hat Aléa Torik nun einen Beitrag in der deutschen Ausgabe von LETTRE international, das ist doch bemerkenswert, was die Autorin ja auch selbst in aller Bescheidenheit anmerkt. (Sie finden den Beitrag in der Rubrik ‚Briefe und Kommentare‘, direkt unter der Rubrik ‚Identität und Fälschung‘.) Ich kenne niemanden, der dort veröffentlicht, ich selbst würde da niemals auch nur anfragen, auch in aller Bescheidenheit, denn warum sollten die etwas von mir drucken! So ehrlich zuzugeben, daß man hier und da keine Chance hat, sollte man schon sein. Schlechte Laune habe ich jetzt natürlich immer noch, doch ich werde den Grund schon noch finden, nämlich nach dem Ausschlußprinzip.

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Rhythmus, wo jeder mit muß

Die Frage, wie wir leben wollen, ist nicht zu beantworten, weil das Wörtchen „wir“ in ihr steckt. Bei Fischen spricht man gerne von der Schwarmintelligenz, die dazu führt, daß immer nur (viele) einzelne Fische gefressen werden, der Bestand des Fisches an sich aber nicht gefährdet ist. Das nutzt auch den Räubern, die von dieser „Intelligenz“ profitieren, obwohl und indem sie satt werden. Beim Menschen funktioniert diese Schwarmintelligenz allerdings nicht, denn der Mensch ist, wie seit jeher bekannt, sich selbst Feind. Allerdings fressen sich die Menschen nicht gegenseitig, und die Existenz des Menschen an sich scheint angesichts der sieben Milliarden Exemplare auf diesem mittelgroßen Planeten auch nicht wirklich gefährdet.

Eigentlich wollte ich etwas ganz anderes schreiben. Etwas darüber, wie es mir auf den Geist geht, bei den Übertragungen der Fußball-EM dauernd diese superspaßigen Spaßvögel im Publikum sehen zu müssen, die sich jeder Kameralinse entgegenwerfen und mir ihre abgeschmackten Verkleidungen und grinsenden Fressen präsentieren. Schlimmer noch sind nur die supermännlichen Kerle, die bei jedem Wetter ihre Oberkörper entblößen und ihre Wampe oder ihre Sixpacks zeigen. Was soll der Scheiß! Das ist eklig, das grenzt an Körperverletzung. Die einzigen, die sich im Publikum wie Erwachsene benehmen, sind die Kinder im Stadion. Sicher schämen sie sich für manche Erwachene, vermeintlich Erwachsene. Meine Taktik, bei Anpfiff hinzusehen und beim Abpfiff wieder weg, hilft da natürlich nicht. Es ist zum Kotzen!

Eigentlich wollte ich doch über etwas ganz anderes schreiben! Irgendetwas über Literatur, zum Beispiel über Robert Musils Miniatur „Schafe, anders gesehen“, eine wundervolle kleine Erzählung. Ein andermal. Ich bin froh, nicht zwingend hinaus zu müssen in diese von der UEFA hergerichtete Welt, sondern an meinem Schreibtisch arbeiten zu dürfen, mich mit Literatur beschäftigen zu können, selbst wenn dafür der Zeitpunkt nicht als der richtige erscheint – aber das ist ja eigentlich immer so. Also weiter im Text.

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Nichts scheint wie es ist

Die Sonne ist so breit wie ein menschlicher Fuß. Das sagte, der Überlieferung durch zweieinhalb Jahrtausende nach, Heraklit. Es ist eine Art antiker Theorie zur Relativität, die jedem Kind unmittelbar verständlich ist. Von solch einer Aussage aus, die stimmt und wieder nicht stimmt, kann ein lebendiges Denken ausgehen, weil man sie ohne Probleme sowohl beweisen als auch widerlegen kann – denn es ist überhaupt keine wirkliche Theorie, sondern ein spielerischer Versuch, die Welt zu begreifen. So etwas kann man auch heute noch jederzeit einfach tun, sofern die Sonne scheint.

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Innenpolitik & Zwischen

Innen ist mächtig was los. Nicht nur im Staate, in dem ja immer irgendwie etwas faul ist, nein, ich meine im eigenen Innen. Da ist zum Beispiel dieser Schweinehund, der dauernd zu überwinden ist, angeblich. Ein ewiger Kampf. Außerdem scheint es dort auch ohnedies immer Bewegung zu geben, denn wie oft muß man nicht etwas sacken lassen, während einem in anderen Fällen die Galle hochkommt. Gelegentlich hört man auch Klagen über eine innere Leere, so als sei das Innere, die Seele, wenn sie denn allein das Innere ausmacht, ein Flugzeughangar ohne Flugzeuge. Na und, dann sind die eben alle in der Luft, ist doch prima! Apropos Luft: geht mal garnichts, ist der Mensch verstockt, sitzt ihm oft ein Furz quer. Tja ja, das Seelenleben, die Psyche, die innere Befindlichkeit, das Unterbewußtsein, all diese Dinge! Manch einer besitzt sogar ein inneres Kloster, möchte man meinen, denn wie könnte er sich sonst ganz in sich zurückziehen! Solange er wieder aus sich herauskommt, ist das doch eine gute Sache, behaupte ich mal, wenngleich das Außersichsein eines Menschen dann auch wieder nur selten geschätzt wird. In sich selbst festzustecken ist aber natürlich ebensowenig ein schöner Zustand. Was also tun? Das Zwischen suchen? (Zwischen – was für ein, by the way, schönes Wort!) Wo zwischen? Zwischen Gebundenheit und Freiheit, Körperlichkeit und Geistigkeit? Immerhin ergibt sich so eine Spannung, ja mitunter ein poetisches Spannungsverhältnis, etwa wenn der Armenadvokat Siebenkäs in Jean Pauls Roman zu Beginn aus dem Fenster seines Hauses in Kuhschnappel herausragt, weil er Ausschau hält nach seiner Braut, die er diesen Tages erwartet. Mit dem Körper steckt er in Haus, Eigentum, Tradition und Verantwortung, mit dem Kopf, in dem sich die Gedanken und Wünsche tummeln, aber im Freien. Geht das nicht uns allen so? Hängen wir nicht alle irgendwie dazwischen, sind halb drinnen und halb draußen? Für Spannung ist also gesorgt, nicht nur im Roman.

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