In einem Essay fließen, schweben, vagabundieren und befruchten sich die Ideen und Gedanken eines Autors, und zwar in einem Maße, das für den Leser, der zu folgen versucht, nicht recht faßbar ist. Immerhin aber fließt er oder sie ein wenig mit, kommt ins Schweben, vagabundiert herum und läßt sich befruchten, um am Ende glücklich eingestehen zu müssen, nicht genau begriffen zu haben, um was es eigentlich geht. Das ist der Beifahrereffekt – man hat viel gesehen, sich den Weg aber nicht merken können. In einem Roman läuft die Sache anders, denn nicht nur sind die Ideen vieler Menschen miteinander verknüpft, aufeinander bezogen, gegeneinander gerichtet, nein, es entstehen auch noch Handlungsstränge, gespickt mit Daten, aus eben diesen dann Verwirrungen, die schließlich wieder zu neuen Ideen führen müssen und womöglich zu neuen Mitspielern, Daten und Verknüpfungen. Zu all dem kommen noch die Einfälle des Autors, der sie dann auch noch in seiner Sprache, in seinem Stil zum besten gibt. Und wäre das nicht genug, so tritt auch noch der Leser auf, der dem Ganzen folgen will, sozusagen Seite an Seite mit dem Autor. Streit, so möchte man annehmen, ist da natürlich vorprogrammiert, er ist quasi Teil des Programms, denn nun gibt es nicht den Fahrer und den Beifahrer, sondern zwei, die die Pedale bedienen, die schalten und lenken wollen. Doch führt diese Konstellation keineswegs immer zu einem Stillstand, denn oft genug einigen sich Autor und Leser, wer wann lenkt, bremst und beschleunigt, so daß all dies diesen Beiden, während sie miteinander plaudern und sich Geschichten erzählen, ganz natürlich, folgerichtig und notwendig erscheint. Lesen kann so schön sein.
Das Schreiben von Romanen (14)
Lettrétage & Hildesheim
Die Stiege ist immer steil und gefährlich, wenn es hinabgeht zur Lettrétage, in den „Keller“ des am wenigsten langweiligen Literaturhauses Berlins. Auffällig gut gefüllt waren die Reihen am Mittwoch, dem 28sten März, als zur Landpartie 12 gerufen wurde und Studierende des Hildesheimer Studienganges „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ ihre Jahresanthologie vorstellten, unterstützt von zwei Musikern an Cello und Hang. Wie immer an diesem Ort war die Atmosphäre unaufgeregt und beseelt vom einfachen Sein des Wortes, wenn man das so sagen darf, diesmal sogar ohne die Schwere bundesrepublikanischer oder ostdeutscher Literaturgeschichte, von der davor mal ganz zu schweigen. Das gab den meisten Texten eine gewisse Frische und Pflegeleichtigkeit, letztere hier und da im Übermaß, doch warum es nicht mal als einen Vorteil ansehen, wenn l’art pour l’art ein kleines Fest feiert, vor allem, da ja die meisten der Vortragenden ohnehin und ganz selbstverständlich an ihrem Debütroman arbeiten und dann schon spüren werden, daß es mit der Kunst allein nicht getan ist. Um 10 Uhr war Schluß, die Vortragenden und Gäste wurden mit Dank (für’s Gehen) verabschiedet, der Wind frischte auf, es wurde auffallend kälter – und dann sauste ein Rennrad hinauf zu den Prenzlauer Bergen, um den Schreiber dieser Zeilen an seinen Schreibtisch zu bringen.
Denis Scheck fährt Rad mit Christian Kracht
Christian Kracht bleibt links. Das ist die Botschaft, die uns der Bücherwegwerfer Denis Scheck via TV überbringt, in der Sendung Druckfrisch nämlich. Während Christian Kracht dem Scheck überraschend häufig zweisilbig recht gibt, „das stimmt“ sagt er so oft, wie er die Frage seines Gegenüber nicht beantworten will, ist der Scheck, mit farblich auf die Socken abgestimmtem Einstecktüchlein, sehr darauf bedacht, den krachtschen Roman IMPERIUM als einen vergnüglichen zu loben. Rein rechtlich gesehen müßte sicher der Begriff der Dauerwerbesendung eingeblendet werden. Zu den eigentlich interessanten Fragen kam es übrigens leider nicht, der Name des Diez vom Spiegel wurde nicht einmal erwähnt, obwohl dieser dem Kracht doch immerhin eine rechte Gesinnung vorgeworfen hat, nach Diezens Ansicht herauslesbar aus dem Roman und dem Briefwechsel zwischen Kracht und David Woodard – keine Rede von alldem, von watteweichen Anspielungen einmal abgesehen. Natürlich kann man als Zuschauer nicht wissen, wie die Absprachen aussahen, doch die Chance, sich deutlich zu den Vorwürfen zu äußern, hat Kracht nicht bekommen oder sich (wie zuletzt bereits) nicht hat nehmen wollen. Wie auch immer. So blieb das Gespräch ein Geplänkel, ein wenig einem Tischtennisspiel ähnlich, in dem es nicht um Punkte geht, sondern um das Ping-Pong.
[Heute hatte ich einen Menschen am Telefonapparat, der im Auftrag des ZDF eine Umfrage machte, und der hatte die gleiche Stimme und den gleichen Tonfall wie der Herr Scheck. Ist doch erstaunlich! Haben die doch bei der Konkurrenz glatt einen Scheck in der Hinterhand!]
Flucht, Bewegung und Tod in der Literatur. Einblicke in Texte von Samuel Beckett und Michael Lentz. (Essay)
Sie finden diesen Text auch in eXperimenta, Zeitschrift für zeitgenössische Lyrik und Prosa, und zwar den ersten Teil in der Ausgabe 10/15 (S.11-13) und den zweiten Teil in der Ausgabe 11/15 (S.64-66).
Wozu dient Sprache? Welchen Nutzen hat sie für einen einzelnen Menschen? Kann man in sie hinein flüchten? Aus ihr heraus? Als etwa Samuel Beckett im Jahr 1946 von seiner Muttersprache Englisch zu dem seit Jahren zwar täglich gesprochenen, dennoch aber noch immer fremdartigen Französisch als Schriftsprache wechselt [1], gleicht dies durchaus einer Flucht in ein nicht gänzlich bekanntes Gebiet. Von nun an schreibt er für Jahrzehnte fast ausschließlich französisch, ohne sich zunächst in dem absoluten Maße sicher fühlen zu können wie auf vertrautem Terrain. Aus einer Sprache auszubrechen bedeutet immer auch, in eine andere einzubrechen. Die Folge für Beckett ist eine neue, durchaus gewollte Form des Eingesperrtseins in den Ausdrucksmöglichkeiten der anderen Sprache, die zugleich aber weiterhin das Erzählen von Geschichten ermöglicht, die von Flucht, Bewegung und Tod handeln und damit auch von einer dadurch bewirkten Fixierung des Ich auf sich selbst So sind Becketts Nachkriegstexte so gut wie immer gleichsam sprachreduzierte, ohne unhinterfragte literarische Phrasen auskommende Erzählungen, die in der Form des „mythologischen Präsens“ [2] aus einer im Grunde immer schwachen und hilfsbedürftigen, unsicheren Position eines Ich-Erzählers heraus von Handlungen und Bewegungen, sowohl des Körpers als auch des Geistes, berichten. Für den Leser immerhin wirkt das im Lesevorgang aktuell belebte Geschehen dadurch umso mehr als eine noch nicht beendete, ja als eine nicht zu beendende Geschichte, es sei denn, sie endete mit dem Tod, der jedoch nicht eintreten wird, so lange es Worte gibt [3].
Die Wirkung Samuel Becketts auf ihm nachfolgende Schriftsteller ist kaum eine unmittelbare zu nennen, selbst nicht bei denjenigen, die Beckett zu jenen zählen, die ihren literarischen Werdegang gleichsam begleitet haben. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärt etwa der Schriftsteller Michael Lentz auf die Frage, welches seine literarischen Vorbilder seien, „Robert Walser zum Beispiel verehre ich sehr. Über die Maßen schätze ich Samuel Beckett.“ Für den Text Muttersterben habe er jedoch keine Vorbilder zu benennen, da er sich mit dem Motiv der Todeserfahrung zuvor nicht auseinandergesetzt habe. [4] In Muttersterben bringt Lentz das Verhältnis von Leben, Tod und Poesie aber dennoch auf den „beckettschen“ Punkt, wenn er schreibt: „Wirklichkeit ist ja eine fermentierung die sich nur partikelweise einstellt. Die man dann aber nicht partikelweise verrechnen kann. Sterben hingegen scheint ein unverbrüchliches faktum zu sein. Entweder handelt alle poesie vom tod oder der tod ist poesie – entweder handelt alle poesie vom tod oder die poesie ist tot.“ [5] Hier und in Lentz’ Roman Liebeserklärung (2003) sowie seinem bislang letzten Roman Pazifik Exil aus dem Jahr 2007 sind all die großen Motive, die auch Becketts Werk bestimmen, anzutreffen, als da sind: Exil und Flucht, das Leben als eines Weitersterbens, das der Deformation, des Stillstandes, der Lähmung, des Wartens, des Gefangenseins, das der Wiederholung und das des Todes. Lentz, der in seinen Texten oft mit literarischen Versatzstücken spielt, sie also einem Ich-Erzähler, einem poetischen Ich in den Kopf gibt, um sie neu zu verlebendigen, geht dabei einen ähnlichen Weg wie Beckett, der jedoch seine Bezüge im Laufe der Jahre immer unscheinbarer und als solche kaum mehr zu erkennen in seine Texte goß. Die Frage, auf welche Weise Lentz nun seinerseits diese (beckettschen) Motive, Denkprozesse und Strukturen in seine Texte einfließen läßt, liegt somit nahe.
In Lentz’ Roman Liebeserklärung geht ein Ich auf die Reise, kreuz und quer durch Deutschland, aber auch kreuz und quer durch den eigenen Kopf und die Sprache. Dieses Ich in den Fernzügen der Bahn, dieses Ich im Kopf und dieses Ich in der Sprache ist Lentz immer eines, welches strikt getrennt ist oder bleibt von „Anderem“, getrennt von einer Außenwelt, durch die es sich dennoch bewegt und die es streng befragt, getrennt auch von den anderen Ichs und der Sprache der Anderen, die es nicht ohne weiteres versteht und spricht. Der Roman beginnt mit: „Das ist unsere Geschichte. So weit. Da bist du, und da bin ich. Und wir sind beide noch da. Das ist mehr als erwartet. Wir sind da. Wir sind anderswo. Das ist wenig genug.“ [6] Die Exposition des Romans behauptet also zwei Ichs, die zunächst als vereint in der Vergangenheit einer noch nicht geschriebenen Geschichte gleichsam als ein Satz erscheinen, als getrennt natürlich in Ich und Du, noch aber in einem behaupteten gemeinsamen Dasein, welches die alte Verbundenheit hervorhebt, um sie dann aber sofort voneinander zu scheiden, zeitlich und räumlich in ein jeweiliges Anderswo. Der Roman endet mit „Jetzt haben wir uns nicht mehr. Aber wir haben diese Geschichte“ [7], was nicht zuletzt bedeutet, Worte gefunden und gebraucht zu haben für einen in der Vergangenheit angesiedelten Prozeß, der als solcher abgeschlossen ist, der aber qua Sprache von seinem Ende her erinnert wird als ein von Beginn an zu schildernden Prozeß, der so als Versuch einer Wiederholung aufscheint, nicht zuletzt durch die Verwendung des pluralen ‚Wir’. Das Ende des Romans mündet somit, wenn man so will, in den Beginn, ganz ähnlich, wie dies etwa in Becketts Molloy [8] sowohl in Teil I als auch Teil II der Fall ist. Das Dazwischen erscheint in Liebeserklärung als der Weg vom vergangenen Ist zum endlichen Besitz einer Geschichte, denn die Erklärung, wie die Liebe ist, was sie gewesen ist, hat stattgefunden, das Ich hat sprechend eine Geschichte erzeugt als eine Art Wiederholung, die auserzählt wieder auf den Anfang verweist. Dennoch ist die Wiederholung weder bei Beckett noch bei Lentz als eine vollkommen gelungene denkbar, verfehlt doch das Ende des Textes den Beginn jeweils um ein Weniges, schon allein durch das Bewußtsein des Erzählthabens, ganz im Sinne Kierkegaards, der nur eine unvollkommene, in der Zeitlichkeit stattfindende Wiederholung des sich dessen bewußten Geistes für möglich hält; nur die Ewigkeit läßt Kierkegaard als wahre Wiederholung gelten. [9]
Die Frage, die alle hochwertige Literatur und somit auch der Roman Liebeserklärung aufwirft, ist die alte Frage nach der Grenze zwischen dem eigenen, denkenden und sprechenden Ich und der Welt, zu der naturgemäß bereits das andere Ich zählt, von dem man sich selbst aber nicht einmal genau unterscheiden kann, so wie dies Becketts Ich-Erzähler Molloy entmutigt feststellt, als er von seiner Beobachtung von A und B berichtet [10], weil man letztlich ja auch als Idee seiner selbst im eigenen Kopf steckt. Doch wie damit umgehen, wie die Bilder, die wieder auftauchen aus einer Vergangenheit, bewerten, wie mit der immer wieder möglichen oder wenigstens immer denkbaren Wiederholung, der Flucht vorwärts zum Ausgangspunkt hin, umgehen? Auch der Ich-Erzähler in Liebeserklärung stellt sich all diese Fragen, nicht nur allein aus sich heraus, sondern mit erkennbarem Bezug zur Literatur, zu Beckett und deutlicher noch zu Kierkegaard. So heißt es: „(…) und jetzt eine zentralschwere Frage, um die es hier ja insgesamt geht, nicht wahr, ums Wie, immer geht es ums Wie, wie es ist, ‚Soll man das Dasein nehmen, wie es ist, wäre es da nicht am besten, man bekäme zu wissen, wie es ist?’ [11] Ungelöst. Stehen lassen.“ [12] Dem gleichsam beiläufigen Bezug zu Becketts Schrift Wie es ist folgt an dieser Stelle die Frage Kierkegaards aus Die Wiederholung (1843), denn der lentzsche Ich-Erzähler ist auf dem Weg zu einer neuen Liebe, die er doch bitteschön so erleben will wie seine erste, zumindest versuchen will er es, und da wäre es schön, wenn er die Bedingungen des Daseins wüßte. Und tatsächlich stellt er fest: „Eins zu eins wiedergelebt. Wiederholung“ [13]. Doch das ist natürlich nicht das Ende der Geschichte, sondern der Anfang einer neuen und letztlich nur ähnlichen, weil das Bewußtsein der Wiederholung das Wesen des Ich verändern muß, etwas hervorbrechen läßt, das womöglich dunkel in der Seele lag, so jedenfalls der Ich-Erzähler, wiederum Kierkegaard zitierend. [14]
In Samuel Becketts Molloy sind sich sowohl Molloy als auch der Molloy suchende Jacques Moran innerer Stimmen bewußt. Molloy behauptet, den mahnenden Stimmen selbst immer weit davongelaufen zu sein, jedoch den Imperativen zu folgen, die immer nur eins forderten, nämlich in einer bestimmten Form Klarheit zu bringen in die Beziehung zu seiner Mutter. Sobald er sich aber in Bewegung setzt, werden diese Stimmen wirr und undeutlich, bis sie dann ganz verstummen und ihn hilflos zurücklassen. [15] Die inwendige Stimme Jacques Morans, nach der sich zu richten er bereit ist, mahnt ihn, weiter der treue Diener einer Sache zu sein, die nicht die seine ist. Daraufhin stellt ihm schließlich eine neue Stimme in Aussicht, die Erinnerungen an diese sorgfältig bis zu Ende durchgeführte Arbeit würde ihm in Zukunft helfen, „das lange Grauen der Freiheit und des Herumstreifens zu ertragen“. Dies jedoch erkennt er als die bedrohliche Prophezeiung, aus seinem ihn schützenden Heim vertrieben zu werden und als alter Mann, der nicht mehr von vorne beginnen könne, im Exil leben zu müssen. [16] Beide Protagonisten leiden jedoch nicht nur unter den aus ihnen selbst kommenden Befehlen, beide sind auch einer zunehmenden Deformation ausgesetzt, verbunden mit einem Nachdenken über ihr Leben, in dem die Möglichkeit eines tatsächlichen Neuanfangs immer unwahrscheinlicher wird. Eben diese Thematik, die Reduktion von Bewegungs- und Handlungsmöglichkeit, findet sich implizit wie explizit in Texten von Michael Lentz’, in Muttersterben ebenso wie im Roman Pazifik Exil, der eindringlich die Flucht- und Exilgeschichte deutscher Intellektueller erzählt, die in den USA ein neues Zuhause suchen, unter ihnen Franz Werfel und Arnold Schönberg. Letzterer denkt in Pazifik Exil nach über seine Lage im Exil, über den Verfall und das Sterben. So sinniert er etwa über den Schrecken, den der Anblick von nahestehenden Menschen auslösen würde, die er aber wahrscheinlich nie wieder sehen wird. „Mit jeder Sekunde“, so Schönberg, „sähe ich den Freunden beim Sterben zu, denn nichts anderes ist es ja, zu leben.“ [17] Eine ebensolche Frage ist es, die man sich, so Molloy in Becketts Roman, in der Abgeschlossenheit stellen muß, nämlich „ob man immer noch lebt, und wenn nicht, wann alles zu Ende gegangen ist, und wenn ja, wie lange es noch dauern wird; (…)“ [18]. Im Kern geht es natürlich auch bei Schönberg um Selbstbeobachtung, darum, den Verfall seiner selbst sprechend bzw. denkend aushalten zu können bis zu einem gemutmaßten körperlichen Stillstand, der aber geistig noch wahrgenommen wird. Schönberg als eine Figur aus Lentzens Roman denkt wie so manche Figur Becketts, wenn er feststellt, es gäbe keine Pause im gegenwärtigen, ununterbrochenen Verfall, ja an manchen Tagen lähme ihn dieses Verfallen so, daß er gar nicht auf die Straße gehen könne. [19]
Doch auch bei einer körperlichen Stillegung durch eine wie auch immer geartete Krankheit funktioniert das Gehirn mit seinen Geschichten mutmaßlich immer noch, indem es neue, von Gestalten belebte Muster ausspinnt, selbst dann noch, wenn eine innere Erstarrung eingetreten ist. [20] Dies, ein fortgesetztes Sprechen mit sich selbst als eines rein inneren Vorgangs, vermutet der Ich-Erzähler in Muttersterben. Die Mutter, heißt es, lebe in ihrem System des Innen, das gar kein Außen mehr kenne, so scheine es, auch seien alle Gestalten, die sie im letzten Jahr vermeintlich außen wahrnahm, ein maskiertes Innen, auch falle das sogenannte autobiographische Selbst zeitweilig total aus. [21] Molloy behauptet mehrere Male ganz ähnliches, allerdings von sich selbst und aus einer Position des Danach, wenn er sagt, „manchmal vergaß ich nicht nur, wer ich war, sondern daß ich war, ich vergaß mein Dasein.“ [22] Das Dasein selbst aber gebiert dessen ungeachtet weiterhin die Ungeheuer des Innern – davon jedenfalls ist auszugehen.
Das Motiv des Zur-Mutter-Zurückkehrens ist im ersten Teil von Molloy handlungsbestimmend, ebenso wie in Muttersterben. In beiden „Fällen“ ist dieses Zurückkehren, bei aller Unterschiedlichkeit der Texte, als absolut notwendig erkennbar. Molloy erlebt seine Bewegung als eine kreisförmige bzw. quadratförmige, naturgemäß zum Ursprung zurückführende, obwohl er zugleich weiß, daß er sich geradeaus hin zur Mutter bewegt. Er ist sich des Besonderen dieser Beziehung natürlich bewußt, der keine andere gleichkommt, will er doch sogar „auf den Hühnerflügeln der Notwendigkeit dorthin“, zu seiner Mutter fliegen [23], auch wenn die Schwierigkeiten immens sind, wie es schon diese krude Bemerkung andeutet. Doch die Zeit drängt und bald schon konnte es zu spät sein, nun muß endlich die Angelegenheit zwischen ihm und seiner Mutter, die vielleicht immer noch auf ihn wartet, geregelt werden [24], ja er hat sogar das Gefühl, er sei ganz allein und seit jeher auf dem Weg zu seiner Mutter gewesen, um ihren Beziehungen „eine weniger schwankende Grundlage zu geben“. [25]
Michael Lentz arbeitet mit den selben beziehungsweise sehr ähnlichen Motiven; zwar trifft sein Ich-Erzähler die Mutter an und spricht mit ihr, doch er kann nicht sicher sein, ob eine Verständigung wirklich möglich ist. Feststellungen wie „Die Mutter, das fremde denken. Nie reichst du heran! Möglicherweise ist es ja so, dass alles denken gleich – und gleich verloschen ist“ [26] weisen auf eben das hin, was Molloy als die schwankende Grundlage der Beziehungen zur Mutter bezeichnet und was zu verbessern sei. [27] Molloy gelingt dies nicht, er trifft die Mutter nicht an und weiß nicht einmal, ob sie lebt oder tot ist, doch auch das lentzsche Ich verfehlt die Mutter, ja es kann angesichts und in Gegenwart der Sterbenskranken mit ihr nur noch sprechen wie bereits nach ihrem Tod [28], so als sei diese Gegenwart nicht eine gemeinsame. Die Verständigung, die zeitlebens möglich war oder wenigstens möglich schien, wird nun immer unmöglicher, die Beziehung verbessert sich nicht mehr und hört schließlich als eine gegenwärtige auf zu sein. Der mutterseelenmenschenleere „raum darin Mutter verschwindet“ [29] ist schließlich nur noch ein verlassenes Zimmer, der Ich-Erzähler kann in ihm sein, hat aber keinen Zugang zur Mutter, ja er hat ihn vielleicht nie gehabt, obwohl diese Mutter nur für ihn da war, wie er feststellt, man warte ein Leben lang davor, doch dann „kommt der tod und schließt die Mutter“ [30]. Dieses bei Franz Kafka entlehnte Motiv aus Vor dem Gesetz deutet die Tragik an, die darin liegt, das einem Zustehende gegenwärtig nie begriffen zu haben, bis es schließlich zu spät ist, weil der Tod kommt.
Die Frage zu denken, ob man noch lebt oder nicht schon tot ist, bezieht den Tod allein auf den Körper, dessen Deformation und denkbares Ende den Geist beschäftigt. Die Möglichkeit, den körperlichen Tod als Geist zu überstehen, also weiter im Sein zu verharren, ist somit an das Denken, an das Benutzen der Worte geknüpft, ja der Geist ist am Ende allein Wort, so wie der Geist auch zu Beginn sich selbst setzt, man denke nur an Jean Pauls kindliche Erkenntnis „ich bin ein Ich“, die er in seiner Selberlebensbeschreibung dokumentiert [31]. Gewissermaßen am anderen Ende findet sich der Erzähler in Becketts Der Namenlose, der ohne Empfindung eines Körpers ist, aber weiter spricht als ein Ich, so als seien es die Worte, die den Geist formen, die Geist sind, nicht umgekehrt. Diese Motivlage des weiterexistierenden menschlichen Geistes ist in vielen Texten Becketts präsent als Fragestellung, als Behauptung, wie zum Trotz gegen jede Art von Deformation. Lentz läßt einen seiner Protagonisten im Roman Pazifik Exil, Arnold Schönberg, über eben diese Frage nachsinnen. „Ich hatte früher“, so heißt es dort, „die Vorstellung von einem Tod, der einen das Leben noch zu Ende denken lässt. Man denkt das Leben stringent zu Ende, und dann setzt der Tod ein. Es hat aber mit dem Denken gar nichts zu tun. Wem die Gnade zuteil wird, bei vollem Bewusstsein zu sterben, der kommt vielleicht in die Versuchung, das Leben zu Ende denken zu wollen. Er denkt und denkt, und weiß dann nicht, was, was soll ich denn jetzt denken, soll ich jetzt denken, dass ich bald sterbe, also gut, ich denke jetzt, dass ich bald sterbe, ich sterbe bald; schön, denkt dann, das habe ich jetzt gedacht, was aber weiter? Was soll ich danach denken?“ [32] Ist das eine Flucht in die Sprache, die wie gehabt das Empfinden des vorletzten Mals in Worte faßt, wie dies Beckett in Molloy darstellt [33], Ausdruck eines Geistes, der ein „letztes Mal“ nicht denken kann, einfach nur, weil er ein Danach immer auch denken kann? Ein Franz Werfel als weiterer Protagonist in Pazifik Exil untersucht die Wandlungen seiner selbst auf ähnliche Weise; besonders die Frage, ob am Ende der Tod oder ein neuer Anfang steht, treibt ihn um. Seine Vorgehensweise ist ganz der Molloys ähnlich, der im Bewußtsein des Alleinseins, der Abgeschlossenheit erkennt, daß man sich Fragen stellen muß, also etwa die, ob man noch lebt, doch er stellt sich diese Fragen nicht gerne, sondern aus Vernunftgründen, um glauben zu können, daß er immer noch da ist. [34] Entscheidend ist hier der selbstgeschaffene Kontext, der sich aus eben der Unsicherheit und der Frage ergibt, wo der Geist als ein Denken sich befindet und was er bewirkt, ob er, Molloy, noch dieses ICH ist, was zu sein er oder sein denkender Geist behauptet in seinem ununterbrochenen Wortemachen, was er natürlich nicht zu unterbrechen wagte, selbst wenn dies möglich wäre.
Franz Werfel hat in seinem Roman Stern der Ungeborenen (1946 posthum erschienen) dem eigenen Ich eine Seele gegeben, die hunderttausend Jahre später wiedergeboren wird im vollen Bewußtsein des vorherigen, mutmaßlich ersten Lebens. Die immer virulente Frage, ob ein bestimmtes Ich bald und ganz gegenwärtig sterben werde, ist dadurch aber nicht geklärt, und so denkt auch der Ich-Erzähler Werfel in Pazifik Exil weiter nach und kommt probeweise, ganz ähnlich der beckettschen Protagonisten, zu Schlüssen, auch zu solchen, die auf den eigenen Willen bauen, der den Körper leben heißt. „Ich müßte doch“, so denkt er, „allein Kraft meines Willens leben können. In Ruhe ein- und wieder ausatmen und hierbei nicht an ein baldiges Ende denken. Solange ich ein- und ausatmen kann, werde ich nicht aufhören, ein- und auszuatmen“. [35] Das Schreiben seines Romans sieht Werfel als eine Bespiegelung in sich selbst, verbunden mit dem Spiel, sich als ein anderer zu begreifen, um dann am Ende unter Umständen etwas wie eine tiefe Einsicht in die Fragwürdigkeit von Selbsterkenntnis zu erlangen, „dass wir uns überhaupt kennen können, wenn wir ‚ich’ sagen“. [36] Doch all diesen Zweifeln zum Trotz hat Werfel seinem Roman nicht ein ‚Er’ geben können, der ihm die Last des ‚Ich’ abgenommen hätte [37], ja er geht sogar im Schreiben über sich hinaus, indem er strikt bei sich zu bleiben behauptet und so im eigenen Roman schreibt: „So ist also das Ich in dieser Geschichte ebensowenig ein trügerisches, romanhaftes, angenommenes, fiktives Ich wie diese Geschichte selbst eine bloße Ausgeburt spekulierender Einbildungskraft ist. Sie hat sich mir, wie ich gestehn muß, wider Willen begeben. (…) Was ich erlebte, habe ich wirklich erlebt. Ich bin gerne bereit, mit jedem philosophisch gewandten Leser eine ehrliche Diskussion über dieses Wörtchen ‚wirklich’ zu führen, und ich maße mir an, auf jeden Fall recht zu behalten.“ [38] Dies wiederum, den ersten Satz wenigstens, setzt Michael Lentz seinem Werfel als Gedanken in den Kopf, doch am Ende des Kapitels ist Werfel trotzdem tot. Der echte Werfel in Gestalt des Werfel-Ichs im Werfel-Roman läßt sich anders enden, nämlich im Kreislauf der Wiederholung, wenn er schreibt: „Während ich dies niederschreibe, lebe ich noch immer und schon wieder. Genau in dem Raume zwischen diesem ‚Noch immer’ und ‚Schon wieder’ liegt die Welt meiner Entdeckungsreise (…).“ [39] Es geht also weiter bzw. wieder los, das Ende mündet in den Beginn. Samuel Beckett läßt seinen Berichterstatter Jacques Moran am Ende schreiben: „Dann ging ich in das Haus zurück und schrieb ‚Es ist Mitternacht. Der Regen peitscht gegen die Scheiben.’ Es war nicht Mitternacht. Es regnete nicht.“ [40] Das Ende trifft also auch hier den Beginn, denn der Berichterstatter schreibt, am Ende angekommen, eben diesen Beginn wieder auf. Das neue Weitersprechen und Weiterschreiben mit dem gewissermaßen alten Beginn aber ist ein behauptetes Weiterexistieren im Schreiben, im Wort. Eben dies liegt im Wesen der Literatur, sie verbindet im Lesevorgang das ‚Noch-immer’ mit dem ‚Schon-wieder’ als einer ständigen Wiederholung dessen, was gesagt werden muß.
Norbert W. Schlinkert
Dazu aus dem Bericht über die Tagung in Darmstadt, wo ich den Vortrag 2011 gehalten habe:
„Beckett continues to be highly influential on contemporary literature in German. Norbert W. Schlinkert found in the work of slam poet and novelist Michael Lentz (Liebeserklärung (2003), Pazifik Exil (2007) a number of obvious Beckettian tropes and postures – exile, imprisonment, solipsism – often also referencing Kierkegaard’s Die Wiederholung. In a magnificent, animated reading from Beckett’s Texts for Nothing and from his own Pazifik Exil, Lentz himself, who won the prestigious Ingeborg Bachmann prize in 2001, provided spectacular substance for Schlinkert’s claims, continuing his intimate dialogue with Beckett.“
[Eckart Voigts-Virchow: Beckett in German Culture. In: THE BECKETT CIRCLE / LE CERCLE DE BECKETT. Newsletter of the Samuel Beckett Society. Spring 2012. Volume 35. No.1. S.16.]
[1] Siehe dazu: James Knowlson: Samuel Beckett. Eine Biographie. Frankfurt am Main 2001. Kapitel 15. S.449ff.
[2] Samuel Beckett: Molloy: S.34. Dort heißt es: „Ich rede im Präsenz, es ist so leicht, das Präsenz zu gebrauchen, wenn es sich um die Vergangenheit handelt. Achten Sie nicht darauf, es ist das mythologische Präsenz.“ Sowohl Molloy als auch Moran berichten in der Vergangenheitsform, im Präsenz steht nur das allgemein Gültige oder sich Nichtverändernde. Entscheidend ist aber das gegenwärtige Berichten, das Da-Sein in den Worten.
[3] Ein Hinweis auf die Bedeutung der Worte findet sich etwa in Der Namenlose wenige Zeilen vor dem Textende. Dort heißt es: „(…) ich werde also weitermachen, man muß Worte sagen, solange es welche gibt, (…).“ Samuel Beckett: Der Namenlose. Aus dem Französischen von Elmar Tophoven. Frankfurt am Main 1995 (st 2408). S.176.
[4] Bachmannpreis-Gewinner Michael Lentz: Keine Scheu vor der Probe. Der Gewinner des 25. Bachmannpreises steht fest. FAZ.NET sprach mit Michael Lentz über die Arbeit am Text und Fußball. (02. Juli 2001) http://www.faz.net/artikel/C30703/interview-bachmannpreis-gewinner-michael-lentz-keine-scheu-vor-der-probe-30005214.html
[5] Michael Lentz: Muttersterben. Frankfurt am Main 2002. S.184.
[6] Michael Lentz: Liebeserklärung. Frankfurt am Main 2003. S.7.
[7] Michael Lentz: Liebeserklärung. S.190.
[8] Samuel Beckett: Molloy. Aus dem Französischen von Erich Franzen. Frankfurt am Main 1995 (st 2406).
[9] Siehe dazu: Norbert W. Schlinkert: Das sich selbst erhellende Bewußtsein als poetisches Ich. Von Adam Bernd zu Karl Philipp Moritz, von Jean Paul zu Sören Kierkegaard. Eine hermeneutisch-phänomenologische Untersuchung. Wehrhahn, Hannover 2011. Band 23 der von Brunhilde Wehinger und Günther Lottes herausgegebenen Reihe Aufklärung und Moderne. Kapitel 5.6. und 5.7., S.278 bis 302.
[10] Samuel Beckett: Molloy. S.9.
[11] Sören Kierkegaard: Die Wiederholung. In: ders.: Die Krankheit zum Tode; Furcht und Zittern; Die Wiederholung; Der Begriff der Angst. München 22007. (dtv 13384) S.410 (Brief 11. Oktober).
[12] Michael Lentz: Liebeserklärung. S.136.
[13] Michael Lentz: Liebeserklärung. S.136.
[14] Michael Lentz: Liebeserklärung. S.136.
[15] Samuel Beckett: Molloy. S.120.
[16] Samuel Beckett: Molloy. S.181f.
[17] Michael Lentz: Pazifik Exil. S.232.
[18] Samuel Beckett: Molloy. S.67.
[19] Michael Lentz: Pazifik Exil. S.232.
[20] Michael Lentz: Muttersterben. S.158. Dort heißt es: „Mutter litt sozusagen an zunehmender innerer erstarrung. So hockte sie täglich sich selbst allein lassend im haus und hatte es wohl insgeheim schon längst aufgegeben, sekündlich sinnstiftend zu wirken. Die puste war raus aus ihrem leben. (…) Ein über die jahre hingeschlichener stillstand, der mit der zeit zur völligen inneren erstarrung führte.“
[21] Michael Lentz: Muttersterben. S.161.
[22] Samuel Beckett: Molloy. S.67.
[23] Samuel Beckett: Molloy. S.36.
[24] Samuel Beckett: Molloy. S.89.
[25] Samuel Beckett: Molloy. S.89.
[26] Michael Lentz: Muttersterben. S.146.
[27] Samuel Beckett: Molloy. S.121.
[28] Michael Lentz: Muttersterben. S.162.
[29] Michael Lentz: Muttersterben. S.150.
[30] Michael Lentz: Muttersterben. S.163.
[31] Siehe dazu: Jean Paul: Selberlebensbeschreibung. In: ders.: Sämtliche Werke. Abteilung I. Sechster Band. 4., korrigierte Auflage. München, Wien 1987. S.1061f. Sie dazu auch: Norbert W. Schlinkert: Das sich selbst erhellende Bewußtsein als poetisches Ich. Von Adam Bernd zu Karl Philipp Moritz, von Jean Paul zu Sören Kierkegaard. Eine hermeneutisch-phänomenologische Untersuchung. Wehrhahn, Hannover 2011. Kapitel 4.2. Jean Paul und die Poetisierung der Philosophie. S.179ff.
[32] Michael Lentz: Pazifik Exil. S.408.
[33] Samuel Beckett: Molloy. S.8f.
[34] Samuel Beckett: Molloy. S.67.
[35] Michael Lentz: Pazifik Exil. S.358.
[36] Michael Lentz: Pazifik Exil. S.359.
[37] Michael Lentz: Pazifik Exil. S.359. Siehe auch: Franz Werfel: Stern der Ungeborenen. Frankfurt am Main 1992. S.17.
[38] Franz Werfel: Stern der Ungeborenen. S.17f.
[39] Franz Werfel: Stern der Ungeborenen. S.18.
[40] Samuel Beckett: Molloy. S.243.
Vernunft, Liebe und Amerika: Sophie Mereau-Brentano entdeckt eine Welt (Essay)
Die Ende des 18. Jahrhunderts im Raum stehende Frage nach einem sittlichen Ideal und seiner Darstellbarkeit muß Sophie Mereau [1] intensiv beschäftigt haben. In ihrem 1794 in Gotha zunächst anonym erschienenen Roman Das Blüthenalter der Empfindung unternimmt sie den Versuch, das Sein und das Werden sowohl eines weiblichen als auch eines männlichen Ideals im Rahmen einer in politische und soziokulturelle Ereignisse eingebundenen Liebesgeschichte darzustellen. Eine kritische Würdigung ihres Romans bleibt allerdings weitgehend aus, auch wenn er durchaus zur Kenntnis genommen wird. Friedrich Schlegel schreibt 1796, mit aufgesetzt wohlwollender Herablassung [2], in einem Brief an seinen Bruder August Wilhelm folgendes:
„Ich habe neulich in der Sophie M. Blüthenalter geblättert. Das ist sehr spaßhaft. (…) – Anfangs tritt ein junges Wesen auf, in dem alle möglichen Gefühle Purpurisch durcheinanderfluthen. Es sizt dabey ganz gelassen im Grase. Ich sage es, weil ich gewiß glaubte, es sey ein Mädchen; es sollte aber ein Junge seyn.“ [3]
Die Annahme, das berichtende Ich sei weiblich, liegt allerdings zunächst nahe, denn immerhin ist, auch wenn im weiteren Verlauf schnell deutlich wird, daß der Ich-Erzähler ein Mann ist, die Vorrede glaubhaft mit „Die Verfasserinn“ [4] gezeichnet. Daß Friedrich Schlegel zunächst eine Ich-Erzählerin annimmt, obwohl hier ganz zu Beginn von einer vom Vater verordneten allein unternommenen Bildungsreise die Rede ist, zeigt allerdings auch, daß er tatsächlich nicht sehr aufmerksam gelesen haben kann. So heißt es im Roman-Text: „Im Vollgenuß der Gesundheit, in keine Verhältnisse verwickelt, von keinen Vorurteilen gefesselt, stand ich da – ein freier Mensch!“ [5], ein Bekenntnis, das zu dieser Zeit keine Frau im Ernst hat machen können. So korrespondiert die Erzählperspektive des männlichen Ich-Erzählers Albert, geschrieben von einer Frau, mit dem von ihm beschriebenen weiblichen Ich der Hauptfigur Nanette. Diese „Dreier-Konstellation“ wirft die Frage auf, inwiefern die Autorin ihren Helden Albert so zeichnet, wie sie sich einen Mann im wirklichen Leben wünschte, nämlich sowohl emotional als auch lernfähig, was sich hier vor allem dadurch ausweist, daß der Mann sich selbst im Nachhinein als zu Beginn der Handlung noch nicht voll handlungsfähig beschreibt, am Ende des Romans aber selbständig zu handeln und zu entscheiden weiß. [6; kommentierende Zusammenfassung] Es zeigt sich damit aber auch, daß die Hauptperson Nanette diesen Prozeß zu Handlungsbeginn bereits hinter sich hat; zumindest ist dies die naheliegendste Annahme, wenn man dem Erzähler Glauben schenkt. Als Albert ihr (gegen Ende der Handlung) die Nachricht vom Tod des geliebten Bruders Lorenzo überbringt, erkennt er,
„daß ich Nanettens Wert noch nicht in seiner ganzen Größe kannte. Ihr Geist hatte eine Reife, die der meinige noch unter Kämpfen zu erringen strebte, und sie hatte in ihrer Selbstbildung viele Schritte vor mir voraus getan. Hier lernte ich fühlen und verstehen, was wahre Größe und Selbständigkeit ist, und was sie vermag.“ [7]
Beide dürften somit (am „Ende“ des Romans) einem wie auch immer gedachten „sittlichen Ideal“ recht nahe kommen, während ein (namenloser) Bruder Nanettes das Gegenteil dessen verkörpert. Die weibliche Hauptfigur agiert allerdings keineswegs passiv „wie eine Sonnenuhr und Sonnenblume“ allein im Nachvollzug vorgegebener Momente, wie dies Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik weiblichen Roman-Figuren unterstellte [8], sondern eigenständig und tatkräftig; sie wird dabei zunächst nicht von Männern, sondern „nur“ von der Tante unterstützt. Dies zeigt die besondere Rolle Alberts, die er aber nicht a priori nur aufgrund seiner angestammten Position als Mann einnehmen kann, sondern in die er hineinzuwachsen hat. Denn obwohl er am Geschehen beteiligt ist, ist er sowohl als Berichterstatter im Schreiben als auch in seiner Rolle der Nachvollziehende, der Reagierende, und dabei zunächst ja auch nur der zufällig Involvierte, während der vollständigere Charakter Nanette ist. Zu den Geschlechterrollen in den Romanen Mereaus schreibt Katharina von Hammerstein:
„Statt bloßer Widerspiegelung fremdbestimmten Frauenlebens entwirft Mereau Handlungsgänge, die – wie in anderen Frauenromanen auch – um Liebe kreisen, aber darüber hinaus um Möglichkeiten der freien Selbstausbildung und des selbstbestimmten Handelns zum eigenen Glück und Wohle anderer. Sie kreiert weibliche wie männliche Figuren, die den enggesteckten Rahmen der zeitgenössischen Geschlechtsrollenvorgaben sowie die Zwänge der liebesfeindlichen Konvenienzehentradition überschreiten und das Lesepublikum ermuntern, nonkonforme Handlungs- und Lebensweisen wenigstens in der Welt der Vorstellung in Betracht zu ziehen.“ [9]
Zwar ist Nanette keinesfalls in psychologischer Manier oder überhaupt nur ausführlich gezeichnet, doch sind es gerade die zumeist in romantische Naturmystik eingebetteten Schilderungen Alberts, die Raum schaffen für die notwendige Belebung der Figur der Nanette durch den Leser [10], während der Ich-Erzähler die Ende des 18. Jahrhunderts bereits tradierten, normierten Gefühlsmuster der Empfindsamkeit für sich wie automatisch durchspielt. [11] So entsteht das Paradox, daß der Ich-Erzähler ernst genommen und gleichsam als authentisch akzeptiert wird, während sein von ihm beschriebenes eigenes Ich blaß und konturlos bleibt. Daß aber, wie Herman Moens schreibt, „die Rolle der weiblichen Hauptperson eher komplementär“ sei und sie zur Selbstentfaltung des Helden beitrage, ja ihn dazu bringe, „die äußeren Zwänge zu durchschauen und zuletzt abzulehnen“ [12], ist zwar der Konstellation nach richtig, doch hat Nanette keineswegs, wie bereits gesagt, eine passive, „weibliche“ Rolle inne, ist sie doch gerade wegen ihrer Handlungsfähigkeit dem „Helden“ um einiges voraus. So ergänzt sie, deren Lebensgeschichte sie zu einem reifen, charakterstarken Ich hat werden lassen, nicht Alberts kaum erwachte Männlichkeit um die unvermeidliche Geliebte, sondern bereichert seine Welt durch ihr Vorbild an Stärke, die nicht rechtfertigend bewiesen werden muß, sondern vorausgesetzt ist. Wie sehr ein Mensch unter einer ähnlichen Bedrohung zerbrechen kann, zeigt ja gerade das Beispiel ihres Bruders Lorenzo, der am Ende resigniert und aufgibt.
Der Stärke Nanettes zollt der Erzähler Albert von Beginn an Tribut, so daß die Maßgabe ihres handlungsstarken Charakters alles Weitere bestimmt. Ob in diesem Bild der glorreichen Frau auch eine von Mereau bewußt hineingeschriebene Spur Sarkasmus gegenüber Männern liegt, die Frauen gerade nicht als Menschen, sondern als Ideale betrachten, ist nicht klar zu entscheiden, liegt aber durchaus im Bereich des Möglichen, zeigt doch bereits der Beginn des Romans die Diskrepanz zwischen seiner unbedarften Naivität und ihrer Selbständigkeit. So belauscht Albert unabsichtlich das Gespräch zwischen Nanette und einem Mann, in dem sie seine Einlassung, sie sei seiner Liebe nicht wert gewesen, scharfsinnig und selbstsicher kontert, und geht dann einen Umweg, um sie sehen zu können; gerade dieses „Knabenhafte“ und das blitzartige Verlieben offenbart hier die noch unreife Jugendlichkeit Alberts. Er beschreibt die Unbekannte folgendermaßen:
„Der ruhige, sanfte Ausdruck ihres Gesichts, der geistvolle Zug der um Mund und Auge schwebte, die zarte Frische ihrer Formen, die gefällige Anmut, die alle ihre Umrisse überfloß: alles dies vollendete die Schöpfung ihrer Augen.“ [13]
Diese Frau erscheint als bereits „geworden“, auch wenn Albert zunächst natürlich nur das Äußere beschreibt und alles andere im Verliebtsein aufgeht. Doch allein die Tatsache, daß Nanette sich noch einmal nach ihm umblickt, ist als Aufforderung ihrerseits zu verstehen, ihr zu „folgen“. Zunächst aber ist Albert verwirrt; er erscheint als der (Ende des 18. Jahrhunderts schon nicht mehr ganz zeit-)typische Empfindsame, der eben wegen dieser „Einseitigkeit“ vom Vater in die Welt geschickt wird, ganz ähnlich wie der Heinrich von Ofterdingen des Novalis, um lernen zu sollen. So heißt es gleich zu Anfang des Romans:
„Mein Vater wünschte mich vor Einseitigkeit gesichert zu wissen, er wollte meine Kenntnisse vervielfältigen, meine Begriffe berichtigen, und meiner Urteilskraft eine freiere und festere Richtung geben. Deshalb ließ er mich reisen, und ich befolgte seinen Willen gern.“ [14]
Dies muß für ihn in erster Linie heißen, ein Gleichgewicht herstellen zu können zwischen noch jugendlich überbordendem Gefühl und noch unreifem, wenn auch heftig arbeitendem Verstand. So ist Albert, als er die besagte Antwort der Unbekannten hört, ergriffen von der glücklichsten Mischung „von ruhiger Feinheit und treffendem Witze“ [15], während er, der urplötzlich Verliebte, bald schon feststellen muß, wie ihm zum ersten Mal das Gefühl seiner Selbst zur Last wird. Das unselbständig-empfindsame und damit normierte Ich Albert regt sich, noch immer zwar in typischer Art und Weise, ist aber fixiert auf ein Wesen, das so frei zu sein scheint, wie er es für sich selbst nur behauptet. Auch Nanette ist natürlich nicht eigentlich frei, denn sie muß, mit Hilfe ihrer Tante, vor den Nachstellungen ihres skrupellosen, intriganten Bruders [16] fliehen, doch ist sie es auf andere Weise, indem gerade sie nicht einseitig ist, weder aus Naivität noch aus Bösartigkeit, sondern ausgeglichen durch eine klare und deutliche Haltung, die weder dem Gefühl noch dem Verstand die alleinige Oberhoheit zuweist. Diese Zielsetzung erkennt auch der ob seines Gefühlsüberschwanges leidende Albert, als er das Verschwinden Nanettes feststellen muß und, mit sich selbst und der ganzen Welt in Streit geratend, in Schwermut verfällt. Immerhin stellt er schließlich fest:
„Meine gesunde Vernunft und eine glückliche Organisation retteten mich endlich aus einem Zustande, der bei so glühender Einbildungskraft und so auflodernden Gefühlen leicht hätte gefährlich werden können. (…) Unvermerkt ward ich aus dem Beobachtenden zum Mithandelnden; (…) Ich fühlte es – der Mensch muß handeln.“ [17]
Noch ist es ein Gefühl, noch bezieht sich Albert auf die Natürlichkeit von „gesunder Vernunft“ und „glücklicher Organisation“, auf gleichsam Vorgegebenes, auf das er wenig Einfluß hat. Nachdem er Nanette nun einmal verloren hat, wendet er sich neu dem Leben zu, lernt bald ihren Bruder Lorenzo kennen, ohne um seine Identität wissen zu können, ja er findet sogar Nanette unversehens in Paris auf der Fête de la Fédération am 14. Juli 1790 wieder, um ihrer schließlich erneut und ohne eigenes Zutun verlustig zu gehen, und natürlich kann er sich ihrer Zuneigung nicht sicher sein. So kehrt er, auf Wunsch des Vaters, endlich in die Heimat zurück, und er scheint tatsächlich (ein wenig) gereift zu sein.
Was Sophie Mereau im ersten Drittel des (recht kurzen) Romans den Lesern vor Augen führt ist sicher kaum mehr als eine übliche, abenteuerliche Liebesgeschichte, die ihre Aktualität zunächst nur aus dem Kontext der Französischen Revolution und des damit verbundenen Freiheitsbegriffes zieht. Das Verliebtsein, der überaus starke Bezug zur Natur, die harmlos-naive Empfindsamkeit des Jünglings läßt kaum mehr erwarten als ein glückliches Wiedersehen der Verliebten am Ende. So kommt es, aber dennoch entsprechen Albert und Nanette nicht ausschließlich einem vorgefertigten Bild von Mann und Frau. Im Falle Alberts ist es die Rückkehr zur „mütterlichen Erde“, die ihm immerhin, gut „heraklitisch“, zu Bewußtsein bringt,
„daß wir nie das wieder werden können, was wir einmal aufgehört haben zu sein. Die Erfahrung die wir machen, die Gefühle, die in uns entwickelt werden, ändern unaufhörlich an unserm Wesen – und kein Gott kann ihre Wirkung aufhalten!“ [18]
Nicht das eigene Gefühl, kein Gott und keine Tradition können das Werden eines Ich letztlich hemmen, doch muß dies nicht folgerichtig in Harmonie und Glückseligkeit enden, wie er erkennen muß. Der Natur kann sein Herz nun nicht mehr „die magische Beleuchtung einer lachenden Phantasie“ [19] verleihen, er scheint nicht mehr im Einklang mit ihr leben zu können. Schließlich findet er, nach dem Tod des Vaters auf Reisen, zwar eine Art Gastrecht in ihr, als er in einem reizenden, in den Bergen versteckten Tal bei einer Hirtin [20] und ihren Kindern unterkommt, doch dient ihm dieses „Schäferidyll“ letztlich nur dazu, fernab von seiner Welt zu neuen Kräften zu kommen, um die „Fackel seiner Menschenliebe“ aufs neue zu entzünden. Ein Werden aber findet hier nicht statt: der Absturz ist vermieden, ein Weiterkommen unmöglich.
So ist es wieder die Natur, die ihn zunächst einlullt, die ihm dann aber (mittels eines Unwetters) Nanette blitzartig wieder zuführt, als diese sich zugleich mit ihm in die Hütte der Hirtin rettet. Das Glück ist plötzlich wieder da, eine recht unwahrscheinliche Wendung, die nicht das Ende der Geschichte bedeuten kann. Natürlich ist Albert immer noch weit entfernt von wahrer Einsicht in das Wesen der Geliebten, auch wenn er das Wiedersehen als den ersten heiligen Moment „eines neuen seligern Daseins“ [21] empfindet. In Nanette kann er in jedem Fall immer noch nicht mehr sehen als ein Ideal. So heißt es:
„Welches Leben in diesen Zügen! welche feine Mischung von glücklichem Scharfsinn und warmer Empfindung! welche zarte Verwebung von ungekünstelter Natur und feinerer Bildung, von jugendlichem Frohsinn und ruhiger Vernunft! Meine Phantasie wußte nichts hinzuzusetzen, und fand hier ihr kühnstes Ideal erreicht.“ [22]
Wie gesagt, die Geschichte kann hier nicht beendet sein, denn dem möglichen poetischen Ich Alberts ist noch kein Leben eingehaucht, es verbirgt sich noch in der Larve der Normativität. Auch die Schilderung Nanettes entspricht, auch wenn ein Mehr gleichsam hineingelesen wird, noch weitgehend den idealisierten Vorstellungen eines normativen, weiblichen Ich. Darüberhinaus aber ist es im grunde allein der Tatsache der Autorschaft Sophie Mereaus und ihrer Absichten hinsichtlich der Darstellung der selbstbewußt eigenständig lebenden Frau geschuldet, daß das männliche Ich sich weiter zu entwickeln hat und das weibliche mit ihrer (von Albert falsch verstandenen) Idealität diesem Werden als ein bereits Gewordenes dienen kann. [23] Die Handlungsfähigkeit Nanettes aus innerer, individuell konnotierter Notwendigkeit erschließt sich somit auch vom Ende her in der Erkenntnis des an ihr gewachsenen Alberts, der ob der Reife und der charakterlichen Stärke seiner Auserwählten diese gleichsam, aus seinem Gefühl heraus, zu seiner Mentorin macht, zu der er, durch Liebe und Erkenntnis, aufsteigen muß, um ihrer würdig zu werden. Bezeichnenderweise aber ist Albert bald unzufrieden mit der im Grunde nur platonischen Liebe, die allein möglich zu sein scheint, bliebe er bei seiner pantheistischen [24] und empfindsam-idealistischen Weltsicht. Offenbar ist ihm Nanette nun bald zu ideal, um wahr zu sein. In der Tat schreibt ihm Sophie Mereau, als Höhepunkt der weltfremden Idealisierung, zunächst noch die folgende Erkenntnis des Wesens seiner Geliebten zu, die Nanette zu einem normativen weiblichen Ich stilisiert, welches von der Natur verwöhnt und ohne eigenes Zutun „gut“ ist, während er weiter als der typische empfindsame Jüngling dasteht, der, fast wie der mittelalterliche Minnesänger, nur hoffen kann, ihrer im Rahmen vorgegebener Verhaltensmuster würdig zu werden. Albert beschreibt „seine“ Nanette recht ausführlich und offenbart dabei sicher mehr über sich, als daß er ihrem Wesen tatsächlich gerecht würde. Er schreibt:
„Nanette war fern von allem erkünstelten Wissen; ihr ganzes Studium schränkte sich bloß auf die Kenntnis der Menschen ein, aber von natürlichem Scharfsinn unterstützt, hatte sie sich in Beurteilung und Schätzung der Menschen eine Fertigkeit erworben, die ich nie habe fehlen sehen. [25] Dieser tief eindringende, geübte Blick, machte ihren Umgang zu einer unerschöpflichen Nahrung für den Geist. Ihre Urteile waren immer voll Eigentümlichkeit und Tiefe, nie nachgebetet und seicht. Die Wahrheit ihrer Begriffe von dem reinsten Gefühl begleitet, machte sie gerecht gegen andre, gab ihr Frieden mit sich selbst, Selbständigkeit im Gedränge der Umstände. Ein freundlicher Genius schien unablässig den Eingang ihres Herzens zu bewachen, und keiner üblen Laune den Zutritt zu verstatten. Für zweifelhafte Übel hatte sie Erfindsamkeit, ihnen auszuweichen, für gewisse, Mut, sie zu ertragen. Die glückliche Mischung ihrer Säfte verlieh ihr eine unzerstörbare Heiterkeit, die beneidenswerteste Fertigkeit, an allem die genießbare Seite aufzufinden und zu benutzen. Sie war reizbar ohne Schwäche, heiter ohne Unempfindlichkeit; gefühlvoll, ohne sich selbst zu quälen, vernünftig ohne Anmaßung.“ [26]
Diese Schilderung ist auf der einen Seite sicherlich die einer (für den standesbewußten und konservativen Mann des späten 18. Jahrhunderts) geradezu idealtypischen Frau, andererseits aber auch so etwas wie eine Teil-Selbstbeschreibung der Mereau selbst. [27] Im Rahmen des Romans sind die Eigenschaften, die Nanette zugeschrieben werden, im Grunde nicht mehr als nur die Grundlage für jede Art von Selbständigkeit im Denken und Handeln; auffällig ist dabei zum einen der rousseausche Impetus von Natürlichkeit, die frei sich entwickeln kann, wird sie nur angemessen, von einem „freundlichen Genius“, geschützt [28], zum anderen aber auch die Ähnlichkeit mit dem Bild, das Sophie Mereau in der Jenaer Gesellschaft verkörpert. Im Roman finden sich zwar keine weitergehenden Beschreibungen der als in sich gefestigt gezeigten Nanette, die eben nicht am Schmerz zerbricht, weil sie ihn zu bändigen weiß und somit auch die Kraft hat, den bedrohlichen Verhältnissen zu entfliehen, doch ist diese Leerstelle des Nichtbeschriebenen mit dem Geheimnis ihres Werdens „gefüllt“, dessen Gehalt ja gerade Albert dazu bringt, ihre geistige und moralische Stärke anzuerkennen und sie sich zum Vorbild zu nehmen. Katharina von Hammerstein zitiert einen wohlwollend lobenden Text des „Mereau-Verehrers“ Karl Abraham Eichstädt, der in erster Linie Schönheit, Talent und Geist der Mereau preist [29], und merkt dazu an:
„Schön, talentiert, geistreich, unaufdringlich. Welche Diskrepanz aber zwischen dem gefälligen Liebreiz des Erscheinungsbilds und dem „Sturm in der Seele“ (16.7.1796), den das Tagebuch bloßlegt. „Meine Ruhe ist Traum; meine Freude (…) ist das Lachen der Verzweiflung, meine Harmonien sind einzelne abgerißne Töne die von fernen Freudensälen durch die Einöde hallen“, formuliert Sophie Mereau in einer jener Betrachtungen, von denen sich nicht eruieren läßt, wann sie geschrieben wurden und ob sie als Schreibentwürfe dienten oder als autobiographische Skizzen gelten können. Fest steht jedoch, daß sie ihre Stimmungsschwankungen, deren Offenlegung einem Vergehen gegen das anmutig heitere Weiblichkeitsbild der Epoche gleichkäme, eher dem Papier als der Öffentlichkeit anvertraut. Mit dem Tagebuch schafft sie sich ein Ventil für die aufgestaute, nach innen gekehrte Frustration.“ [30]
Im Roman bleiben seelische Probleme, Zweifel und Unsicherheiten einerseits Andeutung, so weit es sich konkret um Nanette handelt, andererseits aber werden sie Albert als Teil seines Werdens zugeschrieben, das ihn am Ende auf die Stufe Nanettes bringt, der er die nun selbst errungenen Fähigkeiten, nach Überwindung der eigenen Naivität, im Grunde nicht mehr als natürlich gegeben zuschreiben dürfte. Mereau hatte sicher nicht im Sinn, in ihren Texten bloß gefällige, eindimensionale und damit normative Charaktere zu schaffen; Formulierungen in Briefen an den Geliebten Heinrich Kipp, in denen die Rede ist vom Freiraum der poetischen Phantasie, die es ihr erlaube, immer nach Gefallen in der Weite umherzuschweifen [31], deuten dies an. Daß es in Das Blüthenalter der Empfindung das (selbst berichtende) männliche Ich ist, dessen Werden aufgezeigt wird, spricht auch keineswegs dafür, die weibliche Hauptfigur als eindimensional betrachten zu dürfen. Herman Moens sieht es allerdings als fragwürdig an, daß der männliche Held überhaupt eine Entwicklung „vom empfindsamen Jüngling zu einem gegen die Verhältnisse aufbegehrenden Befürworter der Freiheit“ [32] vollzieht, da die anfängliche Sentimentalität nicht verschwinde und auch die positive Bewertung der Vernunft schon am Anfang vorhanden sei. Moens übersieht dabei, daß Albert zu Beginn die Vernunft nicht wirklich kennt, da er allein seinem Gefühl lebt, während sein Vorbild Nanette sich weltfremde, vernunftferne Sentimentalität nicht erlauben kann angesichts der Bedrohung durch den intriganten Bruder, der sie ihrer Freiheit und ihres Erbteils zu berauben trachtet. Erst die Liebe und die damit verbundenen Umstände offenbaren Albert die Kraft und Notwendigkeit des konkreten, situationsbezogenen Denkens und geben Nanette am Ende die innere Ruhe und die Möglichkeit zu offenherzigen Gefühlen. Moens betont hingegen:
„Da außerdem der Roman aus der Sicht des Helden sich entwickelt, erscheint die Rolle der weiblichen Hauptperson eher komplementär: die Frau trägt zur Selbstentfaltung des Helden bei und bringt ihn dazu, die äußeren Zwänge zu durchschauen und zuletzt abzulehnen. Das Versteckspiel, das Nanette mit ihm treibt, wird wohl kaum von ihr selber bestimmt, sondern eher von dem schlechten Bruder, und es ist auch der Held, der sich schließlich zur Auswanderung entschließt. Nanette besitzt gewisse Merkmale, die deutlich einer Weiblichkeitsauffassung entsprechen, nach der die Frau ausschließlich eine auf die Männerwelt bezogene, ergänzende Funktion zu erfüllen hatte.“ [33]
Moens scheint davon auszugehen, daß sich Albert in Nanette täuscht, auch noch, als er die Geschichte ihrer Liebe zu Papier bringt; dies hieße aber, ihm keinesfalls die Reife zuzubilligen, zu der er nach eigener Aussage gekommen ist. Doch dies widerspräche dem Dargestellten, denn die Handlung des Romans wird, so läßt sich in jedem Fall konstatieren, eben dadurch vorangetrieben, daß „Gefühl“ und „Vernunft“ erst dann wirklich zusammenfinden, als die offenherzige Schilderung seiner wahren Gefühle, seines Verlangens nach aufloderndem Gefühl und Leidenschaft [34], Nanette dazu bringt, ihr Schicksal zu berichten, um es, wie Albert es wünscht, ganz an das seinige zu ketten. Hier erschließt sich dem Leser die innere Notwendigkeit des Handelns auf der Grundlage von tatsächlich vorhandener Vernunft und Einsicht sowie die des sich gegenseitigen Ergänzens. Folgerichtig ist es nun an Albert zu handeln, indem er Nanettes Bruder Lorenzo, der ja auch sein Freund ist, sucht. Plötzlich ist Albert, letztlich als Folge der Offenbarung seines tiefempfundenen (auch sexuellen) Verlangens, kein Bildungsreisender und empfindsamer Jüngling wie zuvor, sondern hat jetzt endlich tatsächlichen Anteil am Schicksal durch selbständiges Handeln. Im Auftrag von Nanette und ihrer Tante, ebenso aber im eigenen Auftrag, selbst wenn er das Bittere der Trennung von Nanette als unerträglich empfindet, sucht und findet er den verschollenen Lorenzo, verliert ihn aber endgültig, als dieser sich wegen einer aufgrund konfessioneller Vorurteile unmöglichen Liebe zu Luise das Leben nimmt. Tief erschüttert beginnt Albert zum ersten Male wirklich zu denken, weil er zu zweifeln beginnt, nicht nur an der Religion. Er begreift auch die Verzweiflung Lorenzos angesichts dessen Erkenntnis, daß es weder einen Beschützer in den Wolken gibt noch ein Beeinflussen des eigenen Schicksals möglich sei. [35] Die naive Weltsicht, mit der Albert bisher so gut durchs Leben kam, löst sich buchstäblich auf. So heißt es:
„Die fürchterlichsten Zweifel an allem, was den Menschen wichtig ist, zerrütteten meine Ruhe. Ich hatte bis jetzt mein Gefühl gebildet – meine Denkkraft hingegen weniger geübt; und doch ist das richtige Verhältnis zwischen beiden allein die Bedingung unsres Glücks.“ [36]
Albert schwankt geradezu zwischen zwei normativen Weltbildern, seinem bisherigen Glauben an eine Art „Ästhetik des gelingenden Lebens“ und einem von Lorenzo erkannten Determinismus, der nur die Handlungsmöglichkeit bereithält, sich letztlich das Leben zu nehmen. Dies eben ist, so hatte Albert es von Lorenzo gehört, die Freiheit, die bleibt. Lorenzo:
„Und hat der freie Mensch nicht vor unedlern Wesen, die ein drückendes Dasein langsam dahin schleppen, bis es ein Zufalle zerstört, das voraus, daß er freiwillig ein aufgezwungenes Dasein vernichten kann? – Welcher kühne Gedanke, das Schicksal selbst zu beherrschen, und mit stolzer Entbehrung die zu leben vergönnten Tage als überflüssig zurück zu geben.“ [37]
Albert ringt, als ihm diese Möglichkeit des Selbstmords wirklich bewußt wird, mit sich und der Welt; auf der einen Seite ist ihm die ewige Wiederkehr des Gleichen, als etwas Natürlichem, einsichtig und erscheint ihm notwendig, auf der anderen Seite droht er gerade an diesem Gedanken zu zerbrechen, denn bleibt auch der Lebensfunke, so wird ihm klar, als solcher naturgemäß bestehen, so ist doch das eigene Ich durch den Tod auf ewig untergegangen. [38] Endlich aber wird er der Aufgabe, zwischen den Extremen zu vermitteln und Gefühl und Verstand in das richtige, lebendige Verhältnis zu setzen, gerecht. So heißt es:
„Wenig fehlte, – und auch ich erlag der erdrückenden Anstrengung meines Zustandes, wo wir bald vor eigner Größe schwindeln, bald in Staub zerstieben, jetzt mit Zweifeln ringen, und jetzt einer fürchterlichen Gewißheit zu entrinnen streben, bald dem Schicksal trotzen, und jetzt der Notwendigkeit erliegen. Ich fühlte – was ich noch nie in so unbezwinglicher Stärke gefühlt hatte – das Bedürfnis, ein System zu haben, das in seiner göttlichen Erhabenheit alle Zweifel aufnehmen und entscheiden, das den sinkenden Geist aufrecht halten und ihn vor Verzweiflung bewahren könnte.“ [39]
Albert löst sich von seinem Dasein als rein empfindsamer Jüngling und beginnt zu handeln, aus eigener Erkenntnis, aus eigenem Antrieb heraus einzugreifen in das Geschehen, um eben nicht sein Schicksal nur dann in der Hand zu haben, wenn er denn Selbstmord beginge. So versucht er also endlich den Lauf der Dinge zu verändern, doch im Vater der von Lorenzo geliebten Luise findet er, gleichsam als Exempel, nur einen Menschen, der nicht lebt, sondern vegetiert [40], zugänglich weder für Gefühl noch Verstand. Besonders aber angesichts der leidenden Luise verstärkt sich zusehends seine „Bitternis gegen die verschrobnen Verhältnisse der Gesellschaft“ [41]. So wird ihm eben das überdeutlich, was sowohl Lorenzo als auch die von ihm idealisierte Nanette lange schon haben schmerzlich begreifen müssen, daß nämlich die gesellschaftlichen, die politisch-religiösen Verhältnisse einen zum Teil vernichtenden Einfluß auf das Individuum, sei es männlich oder weiblich, haben können. Die von Mereau dargestellte Leidensgemeinschaft, die von allen Beteiligten gleichermaßen Einsatz verlangt, ohne dem Mann allein den aktiven und der Frau allein denn passiven Part zuzubilligen, gewinnt so durch den erwachsen werdenden, sich an der Stärke Nanettes orientierenden Albert an Hoffnung hinzu, gerade auch in Kontrast zu der Hoffnungslosigkeit Lorenzos.
Albert erkennt nun angesichts des Schicksals Lorenzos und Luises in der Liebe zweier Menschen zueinander einerseits immer noch den natürlichen Trieb der Natur, andererseits aber jetzt auch ein unveräußerliches Recht jedes einzelnen Menschen, das nicht beschnitten werden darf durch eine Obrigkeit:
„Ist Liebe, wenn sie nicht wählt, etwas anders als ein blinder Trieb des Bedürfnisses? Und kann sie bei ihrer Wahl die Verhältnisse mit in Anschlag bringen, von denen nicht sie die Stifterin war, die weit eher Werke des menschlichen Mißtrauens und ihres Hasses zu nennen sind, und die sie alle vergessen und entbehren lehrt? Was Liebe fordert, kann Liebe nur gewähren; was sie verdient, nur durch sie belohnt werden; was sie leidet, kann Liebe nur würdigen. – Bedarf es, um zu lieben, erst der Erlaubnis eines Dritten?“ [42]
Waren ihm die Revolutionsfeierlichkeiten 1790 in Paris allein ein Fest der Sinne und der Hoffnung gewesen, so ist ihm angesichts zerstörter Lebensentwürfe die Forderung nach Freiheit und Rechtssicherheit nun existentiell. Er begreift die Notwendigkeit, seine Liebe zu Nanette tatkräftig zu leben, sie ist ihm nun ein „System“ mit festen Regeln, und da er jetzt selbst unter Druck gerät, der Selbstmord Lorenzos hatte einige Aufmerksamkeit erregt, so daß letztlich auch der Aufenthaltsorts Nanettes hätte aufgespürt werden können, reist er ab, zurück zu Nanette, einerseits hoffnungsfroh, andererseits verzweifelt, „nun mit eigner Hand die schönen Blüten ihrer Hoffnung zerstören“ [43] zu müssen. Er hofft, die Konsequenz ihrer Denkungsart würde Nanette „dahin bringen, ihre Kräfte keinem zwecklosen Harm aufzuopfern, sondern lieber zu retten was noch zu retten war“ [44]. Weiter heißt es:
„Ich betrog mich nicht – meine allzuängstliche Besorglichkeit zeigte vielmehr, daß ich Nanettens Wert noch nicht in seiner ganzen Größe kannte. Ihr Geist hatte eine Reife, die der meinige erst noch unter Kämpfen zu erringen strebte, und sie hatte in ihrer Selbstbildung viele Schritte vor mir voraus getan. Hier lernte ich fühlen und verstehen, was wahre Größe und Selbständigkeit ist, und was sie vermag. Nanette hatte ihren Lorenzo mit voller Seele geliebt; die Nachricht die ich ihr brachte, erschütterte ihr Gefühl in seinen innersten Tiefen. Sie verließ mich mit dem lebendigsten Ausdruck ihres Schmerzes. Nach einigen Stunden kehrte sie zurück, – als Kämpfende hatte sie mich verlassen, als Siegerin sah ich sie wieder. Mit den Waffen der Vernunft hatte sie mit ihrem Schmerz gerungen, und ihn nicht verdrängt, aber gebändigt.“ [45]
Der allzu naiven Sichtweise auf Nanette ist Albert also endlich entkommen; er erkennt hinter der Fassade der idealtypischen Frau die menschliche, die individuelle Stärke. Die sich wandelnde Sicht Alberts auf Nanette zeichnet so in gewisser Hinsicht auch ihren Werdegang nach, so wie sie den seinen beleuchtet. Allein in der Betonung, den Schmerz nicht verdrängt, sondern mit der Vernunft gebändigt zu haben, zeigt sich eine Qualität der Erkenntnis Alberts, vor allem da er ja mit dem selben Schmerz zu ringen hat.
Die Liebe zueinander gibt beiden neue Kraft, doch auch hier kann die Geschichte angesichts des Leidens und der gewonnenen Erkenntnisse nicht enden. Zwar sind die Liebenden nun gleichsam in Liebe, Schmerz und Selbsterkenntnis vereint, doch ist noch keine Konsequenz gezogen aus den Verhältnissen der Welt. Zunächst scheint jedoch keine unmittelbare Notwendigkeit eigenständigen, gemeinsamen Handelns zu bestehen, denn die durch Vernunft und vor allem durch die gelebte Liebe gewonnene Gegenwart als einer gemeinsamen Identität könnte idealtypischer nicht sein:
„Wir lebten wieder auf. Eine liebliche Beleuchtung umfloß von neuem die zarten Umrisse unsrer Lebensfreuden. Näher und mit jedem Tage näher und inniger vereinigte diese glückliche Zusammenstimmung unsre Empfindungen und unsre Grundsätze.“ [46]
Doch das Idyll ist bedroht, nicht wegen der Ungleichheit der Liebenden, die ist überwunden, sondern wegen der unnachsichtig nach den Gesetzen von Macht und Gewalt handelnden „Welt“. Das Zusammenstimmen der „Empfindungen und Grundsätze“, von „Empfindsamkeit“ und „Vernunft“, eben das, was Albert in seiner Erschütterung über Lorenzos Tod als Notwendigkeit erkannt hat, kommt hier, angesichts der Bedrohung durch Nanettes (namenlosen) Bruder und eines möglichen Verbots des Zusammenlebens wegen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit, als eine gemeinsame Kraft zum tragen. Es ist Albert, der mit dem Jüngling zu Beginn des Romans wenig gemein hat, der für sich feststellt:
„Die Gefahr war dringend; das Ungewitter schwebte über unsern Häuptern [47], – noch ein Windstoß – und es verschlang uns. Ein unwiderstehliches Mißbehagen an meiner bürgerlichen Lage [48] übermannte mich. Mir graute vor den gesetzlichen Formen, die so vieler Ungerechtigkeit den Weg offen lassen, – ich dürstete nach einem freiern lebendigern Genuß meiner Existenz.“ [49]
Doch es bleibt nicht bei diesem Gefühl des Mißbehagens. Albert kommt zu einer Erkenntnis, die er schließlich Nanette „mit dem vollen Tone der Liebe“ [50] offenbart. Hier zeigt er sich endgültig als eine Persönlichkeit, die entscheidet und handelt, und nicht zuletzt steht dieses von Sophie Mereau beschriebene Ich quasi für die Belebung der von Immanuel Kant gestellten Aufgabe des Menschen, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. [51] Der (gemeinsame) Entschluß, nach Amerika zu gehen, zeitlich unmittelbar im Zusammenhang mit der Französischen Revolution, direkt hinein in die „neuen glücklichen Verhältnisse eines jugendlichen Staates“ [52], bringt dann vor allem Möglichkeiten zur individuellen Entwicklung mit sich. Leider jedoch beläßt es Sophie Mereau bei diesem „Prolog“ zu einem Amerika-Roman, denn viel mehr kann dieser recht kurze Text nicht sein; die Leser und Leserinnen hätten sicher gerne erfahren, wie es den Liebenden ergangen ist im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, angesichts neuer Herausforderungen, die mit Verstand und Gefühl zu meistern sind.
Norbert W. Schlinkert
[1] Sophie Friederike Schubart (1770-1806), bekannt geworden als Sophie Mereau. Zu ihrem Lebenslauf siehe: Katharina von Hammerstein: Ein Nachwort zu Sophie Mereau-Brentanos Leben. In: Sophie Mereau-Brentano: Wie sehn‘ ich mich hinaus in die freie Welt. Tagebuch, Betrachtungen und vermischte Prosa. Herausgegeben von Katharina von Hammerstein. München 1997. S.249-278.
[2] Sophie Mereau gehörte allerdings zu den etwa von Schiller und Goethe geförderten „Weibern“. Siehe dazu: Ein Nachwort zu Sophie Mereaus Romanen. S.263f. und passim. In: Sophie Mereau-Brentano: Das Blütenalter der Empfindung. Amanda und Eduard. Herausgegeben von Katharina von Hammerstein. München 1997.
[3] Zitiert nach: Sophie Mereau-Brentano: Das Blütenalter der Empfindung. Amanda und Eduard. München 1997. Anmerkungen. S.293. Hervorhebung im Original.
[4] Sophie Mereau: Das Blüthenalter der Empfindung. Herausgegeben von Herman Moens. Faksimiledruck der Erstausgabe. Stuttgart 1982. („Ein paar Worte über das Folgende“; Ohne Paginierung.)
[5] Sophie Mereau-Brentano: Das Blütenalter der Empfindung. Amanda und Eduard. München 1997. S.11.
[6] Da die Kenntnis der Handlung des Roman nicht, wie etwa bei Goethes Werther, vorausgesetzt werden kann, sei die kommentierende Zusammenfassung von Katharina von Hammerstein zitiert: „Die Handlung, die eine Liebesgeschichte mit dem aufklärerisch-philosophischen Freiheitsdiskurs und politischen Ereignissen des Pariser Revolutionssommers von 1790 verbindet, tritt hinter den weltanschaulichen Reflexionen eines sich selbst und die Welt entdeckenden Ich-Erzählers im ersten Jünglingsalter zurück. Auf der für junge Männer der besseren Stände obligatorischen Bildungsreise nach Italien verliebt sich der für alle Eindrücke und Empfindungen empfängliche Schweizer Albert in eine Unbekannte – Nanette. Undurchsichtige Mächte entreißen ihm mehrfach ihre Gegenwart, doch begleitet ihn fortan ihr zum Ideal erhobenes Bild. Inmitten freiheitstrunkener Volksmassen anläßlich der Fête de la Fédération am 14. Juli 1790 stößt Albert durch Zufall in Paris wieder auf seine von Freiheitssinn und Enthusiasmus verklärte und ihm dadurch umso seelenverwandtere Geliebte. Nach abermaliger Trennung führt ein weiterer Zufall die nunmehr Liebenden auf einer einsamen Schweizer Alpenhütte wieder zusammen. Ihre glückliche Verbindung wird wiederholt von einem Repräsentanten der feudalistisch-patriachalischen, korrupt-materialistischen Machstrukturen in Gestalt von Nanettes skrupellosem, intriganten Bruder gestört, der sie ihrer Freiheit und ihres Erbteils zu berauben trachtet. Ein Grauen vor den gesetzlichen Formen, die so vieler Ungerechtigkeit den Weg offen lassen und insbesondere einer Frau keinen Schutz ihrer natürlichen Rechte gewähren, veranlaßt die Liebenden, nach Amerika auszuwandern; dort erwarten sie, als selbstbestimmte Individuen in einer freien Gesellschaft das Glück eines frei gewählten Liebesbundes erleben zu können.“ Ein Nachwort zu Sophie Mereaus Romanen. In: Sophie Mereau-Brentano: Das Blütenalter der Empfindung. Amanda und Eduard. a.a.O. S.269. Zu ergänzen ist die Rolle des zweiten Bruders Lorenzo, der, vom älteren Bruder aus Eigennutz zum Klosterleben überredet, sich nach der Flucht aus dem Kloster einem unsteten Wanderleben hingibt und schließlich an der religiösen Intoleranz seiner Zeit zerbricht und Selbstmord begeht.
[7] Sophie Mereau-Brentano: Das Blütenalter der Empfindung. Amanda und Eduard. München 1997. S.56. Hervorhebung N.W.S.
[8] Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abteilung I. Fünfter Band. 6., korrigierte Auflage. München, Wien 1995. S.217. § 58.
[9] Katharina von Hammerstein: Ein Nachwort zu Sophie Mereaus Romanen. In: Sophie Mereau-Brentano: Das Blütenalter der Empfindung. Amanda und Eduard. a.a.O.: S.268.
[10] Ein poetisches Ich erscheint ja in erster Linie vor dem „geistigen Auge“ des Lesers; dazu bedarf es zumeist nicht der kleinteiligen Beschreibung, sondern des maßvollen Wechsels zwischen Nähe und Distanz, Wahrheit und Irrtum, Denken und Tat und so weiter. Allerdings bietet Mereau durch ihren Ich-Erzähler Albert keine große Vielfalt in bezog auf Nanette an, da ihr Gewordensein vorausgesetzt wird.
[11] Zum eigenständig und zielführend Handelnden wird er erst am Ende, als er aus der bedrohlichen Lage den Entschluß ableitet, nach Amerika auszuwandern. Durch diesen blitzartigen Gedanken wird er gleichsam zu einem vollständigen, selbstgewissen Ich, so daß er Nanette zu überzeugen in der Lage ist. Die „Autorschaft“ Alberts, der im Abstand diese Geschichte erzählt, macht den Roman Mereaus zum ersten „Amerika-Roman“ der deutschen Literatur.
[12] Sophie Mereau: Das Blüthenalter der Empfindung. Stuttgart 1982. Nachwort. S.19.
[13] Sophie Mereau-Brentano: Das Blütenalter der Empfindung. Amanda und Eduard. München 1997. S.14.
[14] a.a.O.: S.11.
[15] a.a.O.: S.14.
[16] Dieser Bruder ist in seiner leidenschaftlichen Bösartigkeit dem Roquairol Jean Pauls aus dem Titan (1800-1803) recht ähnlich.
[17] a.a.O.: S.19. Hervorhebungen im Original.
[18] a.a.O.: S.25.
[19] a.a.O.: S.28.
[20] Diese wird, obgleich selbständig und alleinerziehend, mehr als Naturwesen denn als moderner Mensch geschildert, etwa wenn ihre Gastfreiheit nicht als Tugend, sondern nur als Ausdruck ihrer Natur klassifiziert wird.
[21] a.a.O.: S.29.
[22] a.a.O.: S.31.
[23] Auf der anderen Seite dient die Figur des Albert der Autorin. Katharina von Hammerstein schreibt: „Indem sie den männlichen Ich-Erzähler Albert zum Sprachrohr ihrer weltanschaulichen Betrachtungen wählt, spielt sie mit den Möglichkeiten einer doppelgeschlechtlichen Erzählperspektive, die ihr erlaubt, nicht nur einen sensiblen, toleranten, gefühlvollen Mann zu entwerfen, wie sie ihn im tatsächlichen Leben weder in Friedrich Ernst Karl Mereau noch in Clemens Brentano fand, sondern ihm obendrein neben revolutionären noch frauenrechtlerische Parolen in den Mund zu legen, möglicherweise in der Hoffnung, deren ideologische Durchschlagskraft beim Publikum auf diese Weise zu erhöhen.“ In: Sophie Mereau-Brentano: Das Blütenalter der Empfindung. Amanda und Eduard. München 1997. Ein Nachwort zu Sophie Mereaus Romanen. S.270.
[24] „Für mich gab es keine toten Formen mehr; mit heiliger Ahndung sah ich aus allen Wesen geheime Deutung hervorsprossen, und vernahm im Innersten meines Seins ihren göttlichen Sinn.“ a.a.O.: S.32.
[25] Hier ist die Erzählposition ein wenig unscharf; obwohl Albert zu diesem Zeitpunkt noch nichts von ihrer wahren Stärke wissen kann und zudem kaum in der Lage war, weder die angesprochene Eigenschaft zu beobachten, noch sie selbst beurteilen zu können, wird der Eindruck erweckt, er sei derjenige, der ihr voraus sei.
[26] a.a.O.: S.36.
[27] In Gesellschaft wurde von einer Frau allgemein erwartet, sich gefällig und liebreizend zu geben. In Jena der Zeit um 1800 nehmen die Frauen zwar durchaus freimüthig am Kulturleben teil, doch bleiben auch hier aufgrund der Konventionen die Möglichkeiten begrenzt. Siehe dazu: Katharina von Hammerstein: Ein Nachwort zu Sophie Mereau-Brentanos Leben. In: Sophie Mereau-Brentano: Wie sehn‘ ich mich hinaus in die freie Welt. Tagebuch, Betrachtungen und vermischte Prosa. a.a.O.: S.256. Katharina von Hammerstein betont aber, daß Mereau es verstand, Mitstreiterinnen um sich zu versammeln. Siehe dazu: a.a.O.: S.260.
[28] Über die Tante, die die Erziehung von Nanette und Lorenzo übernommen hatte, heißt es im Roman: „Sie künstelte nichts an ihnen. Die Natur, glaubte sie, sei immer gut. Nur daß Beispiel und Menschen nichts an den zarten Herzen verdürben, dafür sorgte sie. Wenn sie das Böse verhinderte, glaubte sie alles getan zu haben, das Gute meinte sie, käme von selbst. Sie lehrte ihnen Begriffe, nicht Worte, entwickelte ihr Gefühl für Recht und Unrecht, und suchte nur das auszubilden, was sie in ihnen fand; anbilden wollte sie ihnen nichts.“ Sophie Mereau-Brentano: Das Blütenalter der Empfindung. Amanda und Eduard. München 1997. S.39. Hervorhebungen im Original. Hier steht ohne Zweifel Jean-Jacques Rousseau Pate, dessen 1762 erschienener „Roman“ Emil oder Über die Erziehung eine „natürliche“, nicht gesellschaftlichen Zielen verpflichtete, sondern den Fähigkeiten des Kindes entsprechende, allerdings wesentlich frühkindliche Erziehung beschreibt. Die gewählten und Albert in den Mund gelegten Formulierungen („glaubte sie“, „meinte sie“) lassen jedoch vermuten, daß Sophie Mereau die Widersprüche des rousseauschen Ansatzes wahrscheinlich erkannt hat. Im Kontext des Romans reicht diese Art der Erziehung ja auch nicht aus, um Lorenzo, der naiv und vertrauensselig ist, vor der Übervorteilung durch den Bruder zu schützen.
[29] Siehe dazu: Katharina von Hammerstein: Ein Nachwort zu Sophie Mereau-Brentanos Leben. a.a.O.: S.255.
[30] a.a.O.: S.256.
[31] Siehe dazu: a.a.O.: S.253.
[32] Sophie Mereau: Das Blüthenalter der Empfindung. Stuttgart 1982. Nachwort. S.18.
[33] a.a.O.: S.19.
[34] Sophie Mereau-Brentano: Das Blütenalter der Empfindung. Amanda und Eduard. München 1997. a.a.O.: S.38.
[35] a.a.O.: S.52.
[36] ebd.
[37] a.a.O.: S.49.
[38] Siehe dazu: a.a.O.: S.52f.
[39] a.a.O.: S.53. Offensichtlich ist Albert hier keineswegs geneigt, sich etwa auf Gott bzw. ein religiöses oder auch ein philosophisches „System“ zu verlassen.
[40] a.a.O.: S.54.
[41] ebd.
[42] ebd. Hervorhebung im Original.
[43] a.a.O.: S.56. Hervorhebung im Original.
[44] ebd.
[45] ebd. Hervorhebung N.W.S.
[46] a.a.O.: S.57. Hervorhebung N.W.S.
[47] Auch hier bringt ein Unwetter blitzartig die Wende; beim überraschenden Wiedersehen war es noch ein reales Gewitter, durch das die Liebenden zusammenfanden, nun ist es ein metaphorisches.
[48] Das Bürgerliche ist hier durchaus nicht positiv bewertet, ganz im Geiste der (romantischen) Frage, ob man Mensch oder Bürger sein wolle.
[49] a.a.O.: S.57.
[50] ebd.
[51] In dem berühmten Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von 1784.
[52] a.a.O.: S.58.
Das Schreiben von Romanen (13)
Ein Roman ist ein ästhetisches Gebilde. Das gilt in jedem Fall, selbst wenn alle Fakten im Roman dagegen sprechen, denn es geht nicht um Fakten, sondern darum, was sie bedeuten, was sie als ein Ganzes sind. Ein Roman bedeutet immer die ganze Welt, nicht eine kleine in der großen, nicht eine nur persönliche, auch keine Gegenwelt, so wie dies auch von den Brettern gilt, die die Welt bedeuten, wie man so schön sagt. Für das Schreiben von Romanen heißt das, sich der schier unmöglichen Verantwortung bewußt zu sein, andere Menschen in die eigene, selbstentworfene Welt hineinzulocken und dort zum Mittun zu verleiten, ja zu zwingen. Ich selbst bin als Leser aus vielen Romanen nie wieder herausgekommen, und wenn, dann bedurfte es eines gewichtigen Grundes und eines Kampfes. Das alles, auch die negativen Erfahrungen, gehört zum Zauber der Literatur, der entsteht durch die vom Leser gesuchte Nähe zu dieser Welt und seinen Protagonisten, die es allein deswegen gibt, weil der Autor zuvor diese Nähe zu „seinen“ Geistern suchte, die dann durch ihn lebendig, zu poetischen Ichs wurden. Die Kunst dabei ist es, diese Ichs nicht wieder aus den Augen zu verlieren, sie aber auch nicht zu sehr „lieb zu haben“, denn dann erdrückt der Autor seine Figur und sie stirbt ihm unter der Hand weg, noch bevor überhaupt eine Welt erschaffen wurde, diese Welt von „Es war einmal“ bis zu dem „und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ – genau darum geht es.
Ich stelle also fest und zitiere mich selbst: „Zu Beginn des 21. Jahrhunderts schmücken sich nicht wenige Schriftsteller mit ihrem sehr speziellen Verhältnis zu der ein oder anderen Figur ihrer Romane, doch auch bereits Schriftsteller des 18. und 19. Jahrhunderts nutzten alle Möglichkeiten, dem poetischen Ich so nah wie nötig zu sein. Dies ist um so verständlicher, wenn bedacht wird, daß keinerlei Nähe gleichbedeutend ist mit der Unmöglichkeit lebendigen Erzählens, während eine zu geringe Distanz dem im Text zu erscheinenden Ich alle Bewegungsfreiheit nähme – es hinge gleichsam, wie eine Marionette, an Schnüren. Eine wohldosierte Nähe zu den Protagonisten läßt hingegen sowohl den Zufall als auch den mitunter dummen Gedanken zu, den Irrtum und – nicht zu vernachlässigen – die Frage, wie denn der potentielle Leser zu all dem stehen wird, denn er muß in jedem Fall mit hinein ins Geschehen, in den Binnenraum des Romans, nicht nur weil er wollen soll, sondern auch, weil er gleichsam Vollstrecker ist. Liegt es da nicht nah, von einer Komplizenschaft zu sprechen, einer Bande, bestehend aus poetischem Ich, Autor und Leser, zusammengeschweißt auf Gedeih und Verderb? Nah liegen tut es schon, das poetische Ich jedenfalls fühlt sich sehr lebendig in dieser Welt mit all den Abenteuern und den ihr immanenten Fragen, all dem Nachdenken über Willensfreiheit oder Schicksal, Seelenwanderung und Liebe, den Sinn oder Unsinn des Seins und so weiter. Mögliche Verwicklungen zwischen Autor und poetischem Ich, die sich bei Jean Paul und Sören Kierkegaard ebenso finden lassen wie in manchem Roman oder Theatertext des 20. Jahrhunderts, sind die Folge des Erschaffens eines lebendigen Geistes, der sich, einmal in der Welt, nicht mehr ausschalten läßt. Am Ende jedenfalls ist es die stabile Dreieckskonstruktion, mitunter über Zeiten, Sprachen, Kulturen und Kontinente hinweg, die ein lebendiges Miteinander aller Beteiligten möglich macht, sofern im Hier und Jetzt der Leser den Text zur Hand nimmt und seinem Zauber erliegt.“
Die Menschen unter den Romanen
Die Leipziger Buchmesse geht ihrem Ende entgegen, sie schleppt sich wie jedes Jahr ins Ziel. Ich selbst war nur gute zwei Stunden auf dem Messegelände und dann ein paar auf dem Verlagsfest des Kulturmaschinen-Verlags. Um 4:11 Uhr in der Früh verließ ich die Stadt wieder, die im Gegensatz zu Berlin eine echte Buchmesse, einen Weltstadtbahnhof und sogar wie Berlin Kneipen hat, die auch in Donnerstag-auf-Freitag-Nächten lang genug geöffnet haben.
Es bleibt nicht aus, in Leipzig berühmte Menschen vorbeihuschen zu sehen, etwa Christian Kracht, dessen Roman IMPERIUM ich letztens las und den ich, als Roman, für zu leichtgewichtig befunden habe. Kracht aber leidet gleichsam unter seinem Roman, Verkaufserfolg und damit verbundene Einnahmen hin oder her, weil ihm Absicht unterstellt worden ist, und zwar eine böse, von Seiten des Herrn Diez vom Spiegel, also eine, die über das „rein“ Literarische hinausginge, angeblich. Man fragt sich allerdings, warum der Diez vom Spiegel nicht den elektronischen Briefwechsel zwischen Kracht und Woodard, Five Years, besprochen hat, wenn denn in ihm oder durch ihn so Fürchterliches behauptet oder in die Welt gesetzt wird, sondern den Roman so sehr auflud, bis er ein vermeintliches Gewicht erreichte, das der Autor offensichtlich schwer auf sich lasten fühlt. Vielleicht könnte mal einer des Englischen in allen Nuancen mächtiger Fachmensch den besagten Briefwechsel besprechen, dann wären womöglich alle schlauer. Ich warte.
Böse Absicht wurde auch, in einem „minder schweren Fall“, Aléa Torik unterstellt, und zwar deswegen, weil eine angenommene 100prozentige Deckungsgleichheit zwischen behaupteter Autorin und dem Menschen, der den Roman Das Geräusch des Werdens schrieb, sich als nicht 100prozentig wahr erwies. Die Diskussion darum blieb recht sachlich und hätte enden können mit dem ganz und gar stimmigen Hinweis auf das Sein der Aléa Torik als Kunstfigur, was jedoch nicht allgemein akzeptiert wurde, vor allem nicht von denjenigen Beteiligten, die das Ganze nicht sportlich, sondern persönlich nehmen. Nachvollziehbar, sicher, doch lenkt Empörung und Entrüstung nur von dem nun vorliegenden Roman an sich ab und beschwert ihn zugleich mit einem Gewicht, das die Autorin als Mensch treffen muß, und zwar zu 100 %. Hat daran mal jemand gedacht, bevor er oder sie in der digitalen Öffentlichkeit sich empörte und sich anschickte, mit voller Absicht dem Menschen unter dem Roman zu schaden? Während das Tun der Torik der Kunst und deren Verbreitung dienen soll, dienten die Angriffe womöglich nur dazu, sich selbst qua Empörung als moralische Instanz zu inszenieren und die Kunst in den engen Käfig ethisch-moralischer Wahrhaftigkeit zu sperren. Das Persönliche und alles dem menschlichen Miteinander Zugehörige mag (und soll) man mit vollem Recht nach diesen Maßstäben beurteilen, die Kunst aber und auch der Macher derselben darf (bis zu einem gewissen Grade) böse sein, manche würden sogar behaupten, sie, die Kunst, müsse auch vollkommen böse sein dürfen, ansonsten der Rezipient als urteilsfähiger Mensch quasi entmündigt würde. Darüber ließe sich sicherlich fruchtbar diskutieren, ohne einen Autor als Menschen angreifen zu müssen, denn da hört die Kunst auf.
Das Schreiben von Romanen (12)
Wer spricht im Augenblick nicht, wer ist abwesend, wer unsichtbar, wer steht unbeobachtet nur so rum, wessen Geschichte ist grade mal eben nicht von Belang? Das sind die wesentlichen Fragen an einen Romantext, die nicht offen gestellt werden. Wie beim Münzwurf entspricht dem Sichtbaren, Kopf oder Zahl, das Gegenteilige, das Unsichtbare, das Zuunterste, das Hinter- und Untergründige. Ich gebe offen zu, daß mich dieses Andere nicht nur nicht unbeteiligt läßt, sondern mich sogar mehr interessiert als das Sichtbare. Deswegen wahrscheinlich gefiel mir der christiankrachtsche Roman IMPERIUM wohl eher nicht, weil er nur die eine Seite der Medaille präsentiert. Ich gebe weiterhin zu, irritiert zu sein von den positiven Leseerfahrungen einiger Zeitgenossen, denen bei Kracht das Abwesend-Anwesende nicht zu fehlen scheint, die, um es deutlich zu sagen, sich durch die offensichtlich distanziert-ironische Erzählhaltung und das so Erzählte wunderbar unterhalten fühlen. Immerhin ist die Kritik zwiegespalten, ich stehe also nicht ganz alleine da. Meine eigenen beiden Romanprojekte (zum einen ein schon älterer, durchaus aber lebendiger Text, an dem sich oft die Geister schon schieden, zum anderen ein um ein Jahrzehnt jüngerer Text, dessen Schicksal sich bis etwa Ende 2013 gezeigt haben wird) haben dagegen durchaus eine andere Ebene, die zwischen den Zeilen entsteht und die allein durch Ätzung zum Verschwinden gebracht werden könnte, etwa durch Ironie, die ich aber zu vermeiden trachte, denn für diese gibt es andere Formen, den persönlichen Dialog etwa oder die Glosse, wobei Glosse nicht von ungefähr an Gosse erinnert. Aber das nur nebenbei.
Das Schreiben von Romanen ist ohne den Leser zu veranstalten, selbst wenn er im Hintergrund lauert. Dieses Andere, also die Leser:innenschaft, versuche ich auszublenden, wenn ich schreibe. Falsch, rufen die einen, die Zeiten der Lesermißachtung sind vorbei, dessen Geduld ebenso, denn er weiß ganz genau, was er will; richtig, rufen die anderen, denn das literarische Schreiben ist in erster Linie Kunst, der sich der Leser angemessen anzunähern, sprich: eine Eigenleistung zu bringen hat. Was also tun, vor allem da der Lektorats-Mensch klipp und klar zu verstehen gibt, daß in den Publikumsverlagen Experimente nicht geschätzt werden, denn von denen bietet die Backlist schon genug für alle Zeiten. Mmh. Was also tun? Weiterschreiben, latürnich!
Märzbrief/1 (2012)
Das lange 19. Jahrhundert endete mit dem Beginn des ersten Weltkriegs, wahlweise auch mit dessen Ende. Wann endet das 20. Jahrhundert? Muß es dafür einen Krieg geben, im sogenannten Nahen Osten, oder einen zwischen Rußland und China? Oder gar einen Weltkrieg? Wohl doch hoffentlich nicht, auch wenn es der Kunst und besonders der Literatur des „Westens“ wohl nützen könnte, hat doch immerhin die „Zeitenwende 14/18“ vor hundert Jahren so wunderbare Romane wie Thomas Manns Zauberberg und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften hervorgebracht, um nur diese beiden zu nennen. Die Psychologie und die Frage, was denn die Zeit als solche überhaupt sei, spielt in beiden Romanen eine große Rolle, desweiteren geht es um den Sinn von Massenbewegungen, um die Frage der Schuldfähigkeit des Einzelnen, um das Militär, um Erotik natürlich, auch um die Frage, wie finanziell Unabhängige ihr Leben gestalten und füllen, und nicht zuletzt ist die Überlegung, wie Technik, Medizin und überhaupt Wissenschaft das Leben prägen, eine wichtiger Punkt und allerhand Überlegungen wert. Der Unterschied zu heute mag sein, daß Europa seiner Führungsposition in fast allen Gebieten immer weiter verlustig geht und die US-Amerikaner nicht einmal daran denken, mit ihren Lieblingsfeinden, den Deutschen (und den Kommunisten), Krieg zu führen, geschweige denn die Europäer untereinander. Stattdessen führen alle westlichen Nationen „ein bißchen“ Krieg (die Amerikaner natürlich ein bißchen mehr) und haben sich bereits daran gewöhnt, weil das kein großer Umbruch ist. Irgendeiner der letzten Bundespräsidenten hatte ja mal aus Versehen die Wahrheit über das bißchen Krieg angedeutet und war dann zurückgetreten. Tja, alles kein Stoff für große Romane, und vielleicht geht der Weg wieder mal nach innen, weil da die reichere Welt ist, nicht unbedingt immer die schönere mit der Blauen Blume, immerhin aber eine persönliche, deren Thematik mit etwas Glück genau paßt zum Buchmarkt, wie ihn sich die großen Verlage zurechtgezimmert haben. Also, was tun? Manch einer würde sicher sagen, das 20. Jahrhundert sei doch das kürzere gewesen, weil es schon 1989 endete, und da sei doch das Thema, aus dem die großen Romane hätten entstehen können. Tja, hätten! Nunja, vielleicht müssen wir einfach noch ein wenig Geduld haben, denn so schnell die Zeiten auch geworden sind, die Kunst braucht Weile.
Schadhafte Texte (1)
Kranzlers Büro müßte, dachte er jetzt, wollte dort etwa ein Nachfolger einziehen, zunächst einmal gesäubert werden. Auch der Putz müßte sicher abgeschlagen und erneuert werden, und selbst die Holzrahmen der Fenster rochen wohl ebenso nach Kranzler wie die Auslegeware, der Schreibtisch, das Waschbecken, der Spiegel, alles, einfach alles stinkt nach diesem Menschen. Zum Glück kurbelte die Krämer damals sofort und trotz des Regens das Fenster herunter im Wagen, noch bevor sie sich anschnallte. Niemand hätte sich das getraut, nicht er und auch die Semper nicht, so mutig und selbstbewußt sie ist und auch damals schon war. Wie oft hatte er wohl darüber nachgedacht, wie die Nähe zu Kranzler zu vermeiden ist. Am ersten Tag in der neuen Position überlegte er bereits, wie er, war die Nähe, etwa in Sitzungen, nicht zu vermeiden, allen klarmachen konnte, daß Kranzler es sei, der stank, nicht er. Aber er hatte schnell herausgefunden, daß der Gestank, den Kranzler absonderte, tagtägliches Thema war, und ein leichtes, ostentatives Naserümpfen genügte bereits, wenn man sich auf dem Flur begegnete. Man war sich einig, man wußte umeinander, wußte, warum manche Kollegen im Winter in dicken Strickpullis am offenen Fenster arbeiteten, um möglichst viel frische Luft hereinzulassen, zumindest so lange, bis Kranzler schließlich eintraf, und er selbst tat es ja jetzt auch, nicht ohne sich zu erkälten gelegentlich, nichts Schlimmes bisher, während jedoch der ein oder andere Kollege, immer waren es Männer, sich durchaus auch manchesmal eine Lungenentzündung geholt hatten. Die Frauen neigten eher zu Blasenentzündungen, und im Winter fehlte nicht selten die halbe Belegschaft, nicht selten auch mußte, noch im Winter, eine Stelle neu besetzt werden, nachdem klar war, der Kollege oder die Kollegin würde nicht wiederkommen, geschädigt fürs Leben. Aber auch die Neuen wurden winters schnell krank, während es sich durchaus gesundheitlich auszahlte, daß fast niemand außer Kranzler den Lift benutzte und so alle, fast ohne Ausnahme, die Stockwerke zu Fuß bewältigten. Im Sommer, so kann gesagt werden, dachte er jetzt, sind wir tatsächlich alle mehr oder weniger gesund, während wir im Winter alle mehr oder weniger krank sind. Die einzige Ausnahme bildet Kranzler selbst und der sich um alles kümmernde Hausmeister, Kübler, dessen Glück es ist, nach einer durch einen Zeckenbiß im böhmischen oder bayrischen Wald übertragenden Gehirnhautentzündung seinen Geruchssinn verloren zu haben. Dieses an sich schreckliche Defizit sichert ihm hier, solange Kranzler an der Spitze steht, den Posten des Haus- und Hofmeisters, den er tatsächlich in völliger Unkenntnis des überall im ganzen Haus herrschenden Gestanks innehat, dachte er jetzt. (Schweigen. Heraklitischer Fließtext / Skizze einer Nacht. S.32ff.)