Das Klagen über die Zeiten hat immer Hochkonjunktur, denn die Zeitläufte nehmen den Menschen einfach mit, selbst wenn er nicht will. Sich in die Vergangenheit zu wenden, wie so mancher Dichter der Romantik, funktioniert aber nur selten und dann auch nur eine kurze Weile. Auffällig ist aber, daß immer sozusagen plural geklagt wird, nicht die Zeit ist schlecht, sondern die Zeiten. Mit den Sitten, über die auch immer gerne gemurrt wird, steht es etwas anders, denn die Einzahl von Sitten wäre die Sitte, also eine Behörde, deren beste Zeiten in der Vergangenheit zu verorten sind. Dabei ist es heutigentags schon mehr als augenfällig, daß die Sitten verdorben sind, etwa am Finanzmarkt, dort aufgrund des Rückzugs des sogenannten Staates, dem die Handlungsfreiheit des Geldhändlers wichtiger ist als die des Geldverdieners. Im Leben der einzelnen Menschen zeigt sich dagegen immer mehr eine Nichtverortung des Einzelnen, der gegenwärtig überall sein kann, nur nicht da, wo er ist, denn es wird zwar viel kommuniziert, doch selten mit dem Gegenüber. Der ferne Mensch wird dagegen ständig angesimst oder gar angerufen. Ich übertreibe natürlich – ein wenig. Ich kann mich noch gut an ein Gespräch erinnern, das nach einer Verstimmung zwischen einem Freund und mir notwendig geworden war. Leider wurde er mehrmals angerufen, es waren wichtige Dinge zu klären, Termine abzustimmen und so weiter. Ich hatte mein Handy zuvor ausgemacht. Jedenfalls war das das Ende der erst beginnenden Freundschaft, die Klärung mißlang. O Zeiten, o Sitten, sagte ich mir damals schon, und auch heute gehe ich davon aus, daß der mit mir verortete und gegenwärtige Mensch mit mir seine Zeit verbringt und nicht mit Außerirdischen. Letztens sah ich des öfteren junge Menschen in der Kneipe sitzen, die sich stumm gegenübersaßen und immer wieder ihr Gerät rausholten, um zu senden, wohl um sich zu vergewissern, daß sie noch wahrgenommen werden von der Welt. Tja, ich nahm sie wahr, wenn auch nur als arme Schweine. O tempora, o mores.
Prozentrechnung
Das gelingende Leben ist ein Ideal der griechischen Antike. So heißt es jedenfalls. Sagen wir mal, die alten Griechen haben sich die Einsicht irgendwo geklaut und sie dann treffsicher und werbewirksam hier und da plaziert. Denn eigentlich ist das ja eine Binse, wie sie binsiger nicht sein könnte. Doch wie steht es denn heutigentags mit dem Gelingen? Seit einer Weile habe ich den Eindruck, es werde mehr und mehr berechnet, nicht nur statistisch, damit jeder sehen kann, wie viele Menschen mit ihrer Lebenssituation zufrieden sind, nein, auch ganz persönlich. Meist geht es dann um eine Gegenüberstellung von Geld und sogenannter Freizeit bzw. von Arbeitszeit und dem damit erwirtschafteten Geld, woraus sich wieder die Qualität der freien Zeit ablesen läßt, denn viel Zeit ohne Kohle macht ja auch keinen Spaß. Doch was tut der Mensch, wenn er so rechnet, feilscht er dann nicht mit sich selbst, lügt sich womöglich in die Tasche? Kann aus zwei Leben ein ganzes werden, wenn sich der Mensch zu, sagen wir mal, 80% der Erwerbstätigkeit widmet, um sich in den 20% Freizeit bzw. Freiheit mittels ausreichender Geldmittel voll ausleben zu können? Das ist die Frage, doch die ist, nimmt man sie persönlich, nicht hundertprozentig zu beantworten. Zum Glück gibt es diese glücklichen Statistiker, und die sagen, daß 80% plus 20% natürlich 100% ergibt. Na also, geht doch!
Schaukelige Hochzeit und ein Occupy-Feuerzeug
Gestern habe ich meinen Kalorienbedarf zu einem großen Teil durch alkoholische Getränke gedeckt. Normalerweise gehe ich nicht auf Hochzeitsfeiern, doch für Marlene und Joachim habe ich einfach mal eine Ausnahme gemacht – denn was ist schon normal? Außerdem hatten sie sich das Ja-Wort schon vor einem halben Jahr gegeben, die Feier auf dem in der Nähe der Oberbaumbrücke am friedrichshainischen Ufer liegenden Schiff diente also nicht der Umkränzung der Vermählung selbst, sondern allein dem Amüsement, dem Trinken, Quatschen und Tanzen. Das Schöne an so einer Feierlichkeit auf einem Schiff ist übrigens, daß man sich von Anfang an betrunken fühlt, des leichten Schwankens wegen, gegen das man dann eben antrinken muß, ob man will oder nicht. Mit anderen Worten: es war ein sehr gelungenes Fest, in dessen Verlauf mir eine schöne Frau ein Occupy-Feuerzeug schenkte, ich gute Gespräche führte, tanzte und rauchte und nach dessen Ende um drei Uhr eine Restmannschaft die Spree ohne Zwischenfälle überquerte, um am kreuzbergerischen Ufer noch ein abschließendes Kaltgetränk zu sich zu nehmen. Was bleibt nun von einer solchen Nacht, das fragt man sich am nächsten Tag natürlich immer, mal abgesehen von den Fotos, die ja locker jederzeit von irgendwelchen Stieseln gegen einen verwendet werden könnten? (Zum Glück aber waren überhaupt keine Stiesel da!) Nun, ich kann mich ohnehin auch gut ohne fotografische Belege an Ereignisse erinnern, ich muß nur einfach etwas darüber schreiben, so wie hier und jetzt. Dann bleibt’s. So einfach ist das.
Eingebrockt
Heute fällt mir, wie imgrunde schon die letzten Jahre, nichts Neues auf (ein schon, aber wen interessiert das?). Die Welt kollaboriert einfach weiter fröhlich vor sich hin, es gibt immer noch Menschen, die an das bismarcksche Rentensystem glauben, der Sportteil der Zeitung ist voll mit dieser Olympiascheiße, Big Brother heißt jetzt Rating-Agentur, die Menschen tun immer noch alles für ihre Haustiere und fressen weiter billiges Fleisch aus der Massentierhaltung, die Waffenindustrie hat keinerlei Absatzprobleme, in den Prenzlauer Bergen wohnen zum ersten Mal seit deren Bestehen mehr langweilige als interessante Menschen und so weiter und so weiter. Kein Grund also, schlechte Laune zu haben, denn es gab noch nie so viel Anlaß zum Optimismus, nicht etwa, weil alles nur noch besser werden kann, sondern eher deswegen, weil wir uns das alles selber eingebrockt haben. Und warum haben wir es uns eingebrockt? Weil wir es können! Ganz einfach.
Guido Rohm las und erklärte dabei deutlich seine Absicht, anwesenden Schriftstellerkollegen durch seine Geschichten jedwedes Weiterschreiben zu verunmöglichen
Netter Versuch! Wirklich. Guido Rohm las gestern am Abend in der Kreuzberger Bar „Rauschgold“ aus seinem Band Die Sorgen der Killer, erschienen im aufstrebenden Kulturmaschinen Verlag.
Und was soll ich sagen: so schnell war ich noch nie im Kopf derjenigen Zeitgenossen, denen die Welt eine aus der sogenannten Normalität verrückte ist, die morden, metzeln und killen, weil es nicht anders geht, nicht anders gehen kann, weil das Nichtbegehen, das Nichttun oder das Guttun allenfalls denkbar ist. Ja, denken, das tun die rohmschen Täter, es ist ein Rummelplatzdenken, mal geht es abwärts, mal aufwärts, doch aus ihrer verfluchten Maschine, die ihr Kopf ist, kommen sie nie wieder heraus. Die Zuhörer gestern schüttelten sich nach dem Ende der Lesung vernehmlich, bevor es den meisten gelang, mittels kalter Getränke und nichtkrimineller Gespräche am Leben zu sein. Doch Rohm las nur drei Geschichten, eine böser als die andere, von insgesamt dreizehn Crime Stories, und mir jucken jetzt schon die Finger. Was also bleibt mir übrig, als wieder hinabzutauchen in die dunkle Welt des Guido Rohm, in die Köpfe der Killer.
„Seelige“ Einigkeit
Alle Welt und jeder einzelne Mensch scheint an das Vorhandensein der Seele zu glauben, ganz gleich ob „Heide“ oder religiös Glaubender. Viele glauben auch an das Unterbewußtsein als eine Art Kellergeschoß des Bewußtseins. Daß sowohl die Seele als auch das Unterbewußtsein ein Konstrukt ist, ja sogar, wenn man so will, ein Mythos, scheint niemanden zu stören. Natürlich gibt es Wissenschaftliches dazu, das Unterbewußtsein ist ja sogar ein Kind der Wissenschaft, doch scheint der Mensch an sich froh zu sein, etwas letztlich Unfaßbares in sich zu tragen, etwas nicht mit letzter Gewißheit zu bestimmendes, dem man sich mit Sprache anzunähern vermag, ohne es jemals fassen zu können. Klar und deutlich und bar jeder Psyche werden allerdings die Roboter des folgenden Postcomputer-Zeitalters sein, und sie werden all die Aufgaben übernehmen, die für Menschen sehr unangenehm oder gefährlich sind oder die Schaden an der menschlichen Seele und der Psyche anrichten können. Einige dieser Roboter werden bewaffnet sein und Probleme „lösen“, die allein dadurch entstehen, daß der Mensch ein mit dem Willen gepaartes Bewußtsein hat, denn der eigene Wille ist ja schließlich des Menschen Himmelreich, wie man so schön sagt. Na dann …
Dschungeliges Grün und Industrie
Vorgestern fuhr ich mal wieder Zug. Von Dortmund nach Berlin. Von den Städten sieht man ja oft nur die Rückansicht beim Zugfahren, doch immerhin kann man die Landschaften dazwischen genießen. Denkt man sich so. Doch während eine Stadt wie Dortmund im Sommer an vielen Stellen so wirkt, als würde die Natur nur darauf warten, daß ein Streik der Stadtwerke freie Bahn für die Überwucherung schafft, besteht die aus dem Zug zu betrachtende Landschaft in Wirklichkeit überwiegend aus industrialisierter Landwirtschaft und industrialisiertem Wald. Kein Wunder, daß sich die Tierwelt in die Städte aufmacht. Wie komme ich drauf? Ach ja, die „Winterreise„. Ich beschäftige mich also mal wieder mit der Zeit von etwa 1800 an, vor der Erfindung und Durchsetzung der Eisenbahn, in der die Menschen mit der Kutsche fuhren oder, wenn sie sich das nicht leisten konnten, zu Fuß gingen. Wanderungen über Wochen, um etwa eine Stelle als Hauslehrer zu übernehmen, waren nicht selten, man liest oft davon. Mit Romantik aber hatte das in dieser Zeit nicht immer viel zu tun, nicht nur wegen der Gefahren durch Wetter und Bösewichte, denn auch die Natur hatte schon damals einen schweren Stand, waren doch die Wälder in Deutschland in vielen Bereichen so gut wie abgeholzt. Der Schwarzwald ohne Wald? In der Tat! Immerhin hat man sich dann auf die nachhaltige Forstwirtschaft besonnen und Zustände wie in Irland oder Griechenland vermieden. Also fahren wir auch durch Wälder, wenn wir fahren, denn der Deutsche liebt seinen Wald ebenso sehr wie seine Baumärkte – er ist, von Grund auf, romantisch gesinnt. Oder auch nicht.
Wilhelm Müllers Winterreise im Sommer
Ich beschäftige mich ab heute mit Wilhelm Müllers „Winterreise„, berühmt geworden durch Franz Schuberts Vertonung. Ich lese zunächst in die Biographie Erika von Borries‘ hinein, bevor ich die Lieder selbst neu höre, die ich zuvor nur ganz allgemein im Kontext der „Romantik“ hörte. Ich freue mich auf dieses neue Hören und die neue Sicht auf die Texte des zu Unrecht fast vergessenen Dichters. Auf der Rückseite des Schutzumschlages des insgesamt schön gemachten Buches (in das ich aber trotzdem hineinschreiben muß, die Arbeit verlangt es) steht übrigens: „Sie löst seine Texte aus dem Bann der Musik und gibt ihnen ihre literarische Bedeutung zurück.“ Ich bin gespannt, wie das klingt!
Spiegel
Noch einmal Friedrich Hebbel? Warum nicht! Ich lese also im Tagebuch: „Ein Mädchen vorm Spiegel ist die Frucht, die sich selber ißt.“ (Nr. 1663) Oha, denke ich da unwillkürlich, das hat sich seit über 150 Jahren nicht geändert. Doch warum sollte sich das auch ändern! An anderer Stelle heißt es: „Es gibt auch Spiegel, in denen man sehen kann, was einem fehlt.“ (Nr. 2354) Auch wieder wahr!
Zwischen Zentrum und Peripherie
Ich blättere wieder mal in Friedrich Hebbels Tagebuch. „Nach der Seelenwanderung ist es möglich, daß Plato jetzt wieder auf einer Schulbank Prügel bekommt, weil er den Plato nicht versteht.“ (Nr. 1745) Später schreibt Hebbel dann: „Ein Wesen, das sich selbst begriffe, würde sich dadurch über sich selbst erheben und augenblicklich ein anderes Wesen werden. Das wunderbarste Verhältnis ist das zwischen Zentrum und Peripherie.“ (Nr. 2454) Das heißt natürlich nichts anderes, als immer in Bewegung zu bleiben, sich Fragen zu stellen, ihnen nachzugehen, auch Antworten zu versuchen, obwohl man weiß, daß es nie vollkommene geben kann. Descartes meint in etwa das gleiche mit seinem cogito ergo sum, während Kant den Menschen auffordert, sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Das alles ist jedenfalls eine lebenslange Aufgabe, es erfordert gegenwärtiges Denken und Handeln, aber auch eine Vorstellung davon, wo es hingehen soll. Doch auch dafür weiß das hebbelsche Tagebuch Rat: „Der große Mensch“, lese ich, „ist allenthalben der Fernseher; aber freilich nicht unter Ochsen und Eseln.“ (Nr. 1743)