Die Maschine zählt, und so ist das jetzt hier der fünfhundertste Beitrag meinereiner seit September 2009. Mitgezählt sind die sogenannten Monatsbriefe, die ich vor Jahren fortlaufend den Monat über schrieb als am Ende einen einzigen Monats-Text (noch zu Zeiten, als das hier noch kein Blog war), aber auch Einwortbeiträge und imgrunde nur schlichte Verlinkungen; meistens aber sind an dieser Stelle der Welt glossenartige Beiträge von hoher Qualität zu finden (die weniger guten bitte ich zu entschuldigen, denn das geht ja gar nicht!) und auch einige Essays. Neigte ich zum Großkotzdasein, so würde ich nun sicherlich daran gehen, die besten meiner Texte gedruckt zu veröffentlichen, das macht man halt so, wenn man Schriftsteller spielen will, denke ich, aber ich denke nicht einmal daran, das selbst zu tun. Auch fällt mir nix Substantielles ein zum Fünfhundertsten, außer vielleicht die Betonung der überlebenswichtigen Wichtigkeit meines kürzlich fertiggestellten Romans, der, anders als die 500, dringend gedruckt zu werden verlangt! Ah! Jetzt fällt mir doch etwas ein, nämlich eine Textstelle, die ich eben las im Tagebuch 1953–1969 von Witold Gombrowicz. Dort heißt es eines freitags: „Kennzeichen der Literatur ist Schärfe. Selbst wenn sie dem Leben gutmütig zulächelt, ist Literatur das Ergebnis einer scharfen, harten Entwicklung ihres Schöpfers. Und der Literatur muß an der Verschärfung des Geisteslebens gelegen sein, (…). / Eine Literatur, die ständig von allerlei Romane und Feuilletons fabrizierenden biederen Tanten aufgeweicht wird, von den Lieferanten der letzten Prosa und Dichtung, von wortgewandten Weichlingen, eine solche Literatur ist in Gefahr, ein weichgekochtes Ei zu werden, statt – wie es ihre Berufung wäre – ein hartgekochtes zu sein.“ So ist es! Danke Herr Witold!
Augen auf und durch!
Meine Tagesration an Inspiration hole ich mir gemeinhin durch Lektüre und eher selten durch persönliche Begegnungen. Ein Tag, an dem ich nicht schreibe und auch nicht lese, ist ein verlorener Tag, und meistens lese ich Romane, und zwar eindeutig mit dem Ziel, etwas Außergewöhnliches zu erleben, zu haben. Gelingt dies, wie neulich etwa mit der Lektüre von Célines Reise ans Ende der Nacht oder mit Witold Gombrowicz‘ Ferdydurke und auch mit seinem Pornographie, fühle ich mich getragen wie ein Vogel von warmen Luftströmungen. Herrlich ist das! Mißlingt dies allerdings, stecke ich also mitnichten in einem außergewöhnlichen Buch, flattere ich orientierungslos hin und her und auf und ab, um bloß nicht abzustürzen … das wäre das Schlimmste, abzustürzen, ein Leben in den viehischen Niederungen der Realität führen, wo alles nicht mehr bedeutet als das, was es grad so eben mal ist. Denn aus Dienstbeflissenheit sich etwas vormachen, etwas schönreden, sich selbst die in Aussicht stehende Belohnung, von Urlaub bis Lebensabend, wie die Möhre vor die Nase halten … das ist mein Ding nicht! Stünde Selbstbetrug unter Strafe, die Kerker wären übervoll! Natürlich sehe ich ein, daß es ohne diese Lebenshaltung imgrunde nicht geht, man kann nicht aus Verdruß ständig den Beruf wechseln oder vor Problemen wegrennen, nur weil man sich als Individuum gekränkt fühlt, benutzt, verschlissen und weggeworfen. Außerdem, Strafe muß sein, allzu blauäugige Entscheidungen führen eben zu dem, was man dann späterhin auszuhalten und zu bewältigen hat – hat man sich also etwa das noch jugendliche Leben einmal retten lassen durch die Literatur, ihr damit verfallend, muß man in seinem Leben natürlich Bücher schreiben, ganz gleich, ob man damit dann Erfolg hat oder nicht. Ähnliches gilt ganz allgemein für alles Rettende, auch für Geld, denn wer dem einmal verfallen ist, und sei es aus einem eklatanten Mangel an demselben in Jugendzeiten, kommt nie wieder oder doch nur sehr schwer davon los. Für Gott und Drogen gilt dasselbe. Natürlich muß Geld, Gott und Drogen nicht zu einem völligen Absturz führen, nicht jeder Geldmensch ist ein niederträchtiger Gierhals, nicht jeder Gottgläubige ein Fundamentalist, nicht jeder Drogenkonsument ein Abhängiger, so daß die meisten sich flatternd irgendwo auf halber Höhe wiederfinden, gewissermaßen zwischen Himmel und Hölle. Dazu im Gegensatz besteht allerdings für die auf die Literatur Eingeschworenen, von ihr Abhängigen, keine Hoffnung auf ein erträgliches Dazwischen … denn sie sind derartig abhängig von ihrem Tun, daß sie ständig hindurch müssen, durch Himmel und Hölle, ja, es ist ein ständiges Hinauf und Hinunter, Hinein, Hindurch und Heraus und wieder Hinein – wie es im Buche steht.
Das Hamsterliche und das Rad
„Wohl dem, dem das Hamsterliche innewohnt, denn wo ein Hamster ist, ist auch ein Rad“ – das schrieb ich gestern, und wenn es noch eines Beweises bedurfte, daß wir fröhlichen Menschen es schwer haben, in diesem Satz ist er nicht zu finden. Außerdem bin ich nicht fröhlich, obwohl es gestern um Mitternacht tatsächlich regnete, ich aber keineswegs schrieb, allerdings am Schreibtisch saß. Sie sehen schon, liebe Leser:innen, ich mache es Ihnen einfach, dies nicht zu kommentieren, auch deswegen, weil ich niemanden zwingen will und ich mir selbst, ganz unabhängig vom sogenannten Jahreswechsel, hört, hört!, vorgenommen, nein: verordnet habe, von nun an weniger zu kommentieren, also nur noch da, wo ich erstens: will, und: mir zweitens auch adäquat geantwortet werden wird. Lesen ja, darauf antworten nein, so wird von nun an der Regelfall aussehen, denn dem großen Kommentiergequatsche im sogenannten Internet muß endlich, sage ich, ein inwendiges Schweigen entgegengesetzt werden, ein Strom, der also nur scheinbar zutage tritt, nur in Worten, Sätzen und Kaskaden, sinnlos, bleich und frei. Durchatmen, sich dem Kommunikationszwang entziehen, einfach mal wieder lesen ohne den Hammer im Kopf, es einfach auch mal nicht in die Welt hinausposaunen, was man denn grad so mit Begeisterung lesend vertilgt, und es also zu dem Seinen machen und auch nicht wieder hergeben. Behalten, es für sich behalten, den Profit einsacken – das ist das neue Credo!
[„I have graven it within the hills, and my vengeance upon the dust within the rock.“ (Edgar Allan Poe: The Narrative of Arthur Gordon Pym)]
Mensch!
Zu anderen Zeiten verlor man seine Freunde im und an den Krieg, heute verliert man sie hierzulande eher an die Arbeit oder die Armut, eins von beidem. Arbeiten die einen krampfhaft in sich selbst verkeilt viel, viel, viel zu viel, aus lauter Angst, nicht zu funktionieren, nicht dabei sein zu dürfen und am Ende ohne ausreichende Rente zu sterben, finden die anderen keine Zeit, weil sie sich nicht einmal ein Kindermädchen für ihre Kinder leisten können, die Wohnung zu klein, das Einkommen auch, Tag und Nacht damit beschäftigt, den Kindern das ihnen Zustehende zu geben, bis zur Erschöpfung. So weit ist es gekommen, nicht trotz, nein, wegen des irrsinnigen Wohlstandes in diesem Land, und ja, tatsächlich, der Papst Franziskus hat ganz recht mit seinen Einschätzungen, was das sich jetzt global durchsetzende Wesen des Kapitalismus betrifft. Jeder für sich, Gott für uns alle? Eben dies würde er sicher nicht unterschreiben, der Papst, nicht weil er unfehlbar wäre oder nicht irgendwo Dreck am Stecken hätte, sondern weil er klar sieht. Andererseits muß man ebenso klar feststellen, daß diese ganze Entwicklung hin zu einer reinen Globalmarktwirtschaft dem Wesen des Menschen entspricht, in völliger Friedfertigkeit langweilen sich die meisten Menschen, denn es gehört schon ein höheres Menschsein dazu, allein die Möglichkeit der Langeweile als ein Geschenk zu sehen, das sich der Mensch ungewollt selbst macht, denn verordnen kann er sich nichts derartig Unvernünftiges, vermeintlich Unproduktives. Könnte sich der Mensch etwas verordnen, also etwa Vernunft, so hätte der Sozialismus bestens funktioniert, statt immer wieder dazu zu führen, das Böse im Menschen und das Feindselige herauszukitzeln. Wie im reinen Kapitalismus, denn die Abhängigkeiten bleiben, das Herrsein und das Knechtsein ist tief verankert im menschlichen Sein, da muß man weder Hegel noch Freud bemühen oder ethisch-moralische Kategorien herbeizitieren – das ist einfach so. Also keine Veränderung möglich, kein gesellschaftliches Miteinander ohne die vielen Opfer? – Allein die momentan sechs Millionen Hartz-IV-Empfänger, sechs Millionen Menschen!, müßten doch ein ständiges Fanal sein, die Lage verbessern zu wollen! Müßte, ist es aber nicht! Der Mensch ist des Menschen Mensch – so einfach ist das, jedenfalls so lange Krieg ist, der kleine tägliche wie der versteckte und der offen erklärte, und das Fatale ist immer mehr, daß die, die das Kriegswesen zu beenden trachten – den Krieg gegen Menschen, denjenigen gegen Tiere und das, was wir Natur nennen – oft mit den selben Waffen kämpfen wie ihre Gegner, allerdings, anders als die Gegner, keine weiteren Geschütze mehr in der Hinterhand haben, nicht die Dummheit der Konsumenten noch die nicht nur potentielle Gewalt der Militärs. War das jemals anders, fragt man sich! Nein, natürlich nicht, aber das ist ja eben das Problem!
Zwischenetappe 2014
Dumm müßte man sein, dumm und naiv! Was könnte man sich nicht amüsieren, was gäbe es nicht für ein supertolles Unterhaltungsangebot, hätte man nur auf dieses Nachdenken, was ja immer ein Vordenken ist, verzichten können! Aber nein, man war ja so dumm, die Dummheit und Naivität so vieler Menschen in seinem Umfeld als so abstoßend zu empfinden, daß man sich ganz jung noch dachte, nee, so will ich nicht werden, so will ich nicht leben, so will ich nicht sein. Tja. Und jetzt? Jetzt muß man erkennen, daß es die Dummen und Naiven sind, die den Lauf der Welt noch immer bestimmen, einfach deswegen, weil sie immer in der Mehrheit sind mit ihrer Gier und ihrer Angst vor Langeweile, was die etwas weniger Naiven und Dummen leidlich auszunutzen wissen unter Umgehung dieser lustigen Sache von früher, als man wirklich noch glaubte, Eigentum verpflichte einen Menschen gegenüber der Gemeinschaft, ein Unternehmen sei dem Gemeinwohl verpflichtet. Ha, drauf geschissen!
Vor hundert Jahren führte kollektive Dummheit zum Großen Krieg, später Erster Weltkrieg genannt, und heute, im Jahr 2014, steht die Frage im Raum, wie sich gegen die neuste Art des Irrsinns zur Wehr setzen, die da aus den USA kommt und NSA heißt und zu einer neuen Art der Diktatur führen wird, beziehungsweise, seien wir doch nicht naiv, schon geführt hat. Ein Stichwort ist Erpressbarkeit, denn wer die Daten hat, hat die Macht. Sie wollen Bürgermeister unserer schönen Stadt werden? Aber bitte, gerne, lassen Sie sich wählen, aber denken Sie immer daran, wir wissen, welche Websites Sie wann besucht haben! Und nicht nur das! Wir wissen alles, alles über Sie! Also, viel Erfolg!
Beati pauperes spiritu, selig sind die Armen im Geiste, so heißt es ganz richtig. Wer nicht zum richtigen Zeitpunkt aufgehört hat, sich weiter zu entwickeln, der hat’s schwer, denn zwar gibt es allüberall Fortbildungsseminare, damit man noch besser funktioniere, doch Rückbildungsseminare, nö, Fehlanzeige. Manch schlauer Kopf probiert allerdings auf eigene Faust, der Dummheit und Naivität habhaft zu werden und konsumiert Drogen allerlei Art, das ist natürlich einen Versuch wert – aber erst, das sei euch gesagt, wenn euch jedwede Schlagerparade und die komplett inhaltslose Neujahrsansprache der Kanzlerin wirklich glücklich macht, wirklich und ganz in echt glücklich macht, seid ihr am Ziel. Erst dann! Nun ja, wohlauf denn, verdumme und gesunde, deutscher Mensch des Jahres 2014! Ich wünsche ein Frohes Neues Jahr!
Der Geist der Literatur
Wenn man Célines Reise ans Ende der Nacht gelesen hat, ist man überwältigt. Ein grandioser Roman, kein bißchen verdorben durch literaturwissenschaftliches Denken und Machen – nee, das ist richtige Literatur! Nicht so eine Harmoniesauce, so ein Marktanpassungsgeschreibsel. Letztens erst machte sich jemand ein wenig darüber lustig, daß ich nur selten aktuell erscheinende Romane läse, was natürlich stimmt, aber auch heißt, daß ich aus dem „Aktuellen“ eben nur das wirklich Gute heraussuche. Kann man mir wohl nicht verübeln, und außerdem habe ich alle Argumente auf meiner Seite, daß nämlich erstens alles, was ein Mensch liest, durch sein Lesen aktuell ist, und zweitens – habe ich jetzt vergessen. Was Céline betrifft, so ist augenfällig, wie sehr er Samuel Becketts Prosa beeinflußt hat, darüber ließe sich einiges schreiben, absolut, und natürlich könnte ich das tun, wenn auch nur auf Grundlage der Übersetzungen ins Deutsche. Das wäre sehr, sehr interessant, würde aber wohl kaum jemanden interessieren außer mich selbst, und ich sehe es ja schon. Schade natürlich, aber so ist das nun mal in einer Zeit, in der das Sterbeglöckchen der Geisteswissenschaften schon unablässig leise vor sich hinbimmelt, selbst in Deutschland, dem geisteswissenschaftlichsten Land der Welt. Bald ist es also vorbei damit, obwohl ja deren Aufgabe noch garnicht erfüllt ist. Der Geist selbst immerhin, der bleibt, und manchmal zeigt er sich sogar, vor allem zwischen den Jahren. Huuuuuh.
Jahresendfestewünsche
Die Hochzeit, Hoch mit langem oooh, der Wünsche ist angebrochen, und ich meine nicht die, die unter der Norrrrrdmanntanne landen, nee, die meine ich nicht. Mir geht’s um die Wünsche für’s neue Jahr, die an und für sich selbst, aber auch die, die ganze Welt betreffend. Doch man kennt das ja, es ist ein ewiges Dilemma: wer raucht, wird natürlich weiter rauchen, wer bei jeder Kleinigkeit wütend wird, findet auch 2014 genug Anlässe, und wer abnehmen will, der ist jetzt schon angefressen, weil er sich das ja auch schon für 2013 vorgenommen hatte. Tja. Doch von einem selbst mal abgesehen gibt es natürlich noch genug Wünsche für kleine Änderungen, das darf man nicht vergessen, das Verbot privaten Autofahrens zum Beispiel und, noch wichtiger, dasjenige, sich vor dem fünfzigsten Lebensjahr einen Vollbart wachsen zu lassen. So gäbe es zum einen für uns Fußgänger und Zweiradfahrer endlich genügend Platz, außerdem würde man nicht ständig den einen Vollbarttrottel mit dem anderen verwechseln, vollkommen gleich scheiße, wie die alle aussehen. Ist doch wahr! Damit also wäre schon einiges gewonnen, und wenn man dann das mit dem Weltfrieden im nächsten Jahr auch noch irgendwie hinbiegen könnte – umso besser. Fröhliche Feste wünsche ich!
War Louis-Ferdinand Céline ein Hämorrhoid?
Ist Louis-Ferdinand Céline ein Hämorrhoid gewesen, also ein krankes Arschloch? Nach dem, was wir über seine antisemitischen Pamphlete wissen können, sieht es in der Tat so aus, vor allem wenn wir zugleich annehmen, daß er an einer Psychose erkrankte. Krank also, aber bei vollem Bewußtsein. Aber kann das sein, fragen sich sicher viele, also auf der einen Seite herausragender Schriftsteller, auf der anderen aber haßerfüllter Autor extremer Schmähschriften? Wäre dann aber nicht eher von Schizophrenie zu sprechen, wodurch für den Widerspruch wenigstens ein Wort gefunden wäre? Doch so einfach ist es natürlich nie. Besonders ausgeglichen aber wirkt er nun auch wieder nicht, das muß man schon sagen, wenn man ihn so sieht. Dabei unterscheidet er sich kaum von meiner Vorstellung (des älter gewordenen) Ich-Erzählers aus Reise ans Ende der Nacht, in dem ich einen recht typischen Vertreter des Kleinbürgertums der um 1900 herum geborenen Generation erkenne, einer Zeit also, in der meine Großeltern das Licht jener anderen, uns überwiegend fremden Welt erblickten. Lebendig kann diese Zeit, wenn man es denn will, aber nur werden, denke ich, wenn wir uns lesend konkret einlassen, ohne Nebenschauplätze, wenn wir also mit einem poetischen Ich des Romans verschmelzen und so dem Unbekannten mittels der eigenen Vorstellungskraft ein wenig näherrücken, mitleben, mitleiden. Dokumentationen, Sachbücher, Spielfilme oder TV-Serien können dies meiner Ansicht nach eher nicht oder nur sehr bedingt leisten, ein Nachfühlen, ein sozusagen begrenztes Dabeisein ist nur in der Verschmelzung mit anderen Menschen respektive Figuren möglich, die eben nur noch quasi in Form des literarischen Original-Textes erscheinen können, höchste Qualität vorausgesetzt, wie sie eben bei Céline mit seiner Reise oder bei Döblin mit Berlin Alexanderplatz gegeben ist. Alles in allem bleibt also nur der Text als solcher, ihn nur können wir lesend beleben. Die Frage, wes Geistes Kind der Verfasser war, wie er lebte, was er tat, ist dann im Kontext des Romanlesens irrelevant, denn nicht der Autor als Mensch ist uns gegeben und bleibt uns erhalten, sondern sein Werk – wenn wir es denn lesen.
Céline ist schuld! Einige wirre Gedanken zur Klarsicht
Ich habe gelernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen – oft hört man diese Formulierung, wenn jemand mit Leib und Seele Erfahrungen hat machen müssen, die ihm oder ihr das Weltbild zertrümmerten oder wenigstens schwerwiegend durcheinanderbrachten. Sicher, gelegentlich braucht der Mensch seine Portion unmittelbaren Bewegtseins, allein mit sich und seinen Gedanken oder in Gemeinschaft. In dem Roman Das Sägewerk von Daniel Odija wird ganz zu Beginn ein solcher Moment beschrieben: „Nach einer Stunde beruhigte es sich ein wenig, der Donner zog vorüber, doch die Blitze blieben. Immer noch rauschte das Wasser. Józef bemühte sich, keinem ins Gesicht zu sehen, denn sobald er hinschaute, blitzte es. Für eine Sekunde wurde es dann unheimlich. Er sah das Gesicht seiner Frau. Ihre Augen lagen im Schatten der Höhlen, und die Zähne schoben sich allzu deutlich zwischen den Lippen hervor. Sie wurde in Leichenlicht getaucht. Sie wollte ihm wohl etwas sagen. Irgendwie schienen ihre Zähne hervorzutreten. Offenbar sah sie auch in seinem Gesicht etwas, was sie nicht sehen wollte, denn sie machte bloß den Mund auf. Es gelang ihr, ein undeutliches a…a… hervorzustoßen. In diesem Moment dachte Józef, daß sich unter dem Gesicht, das wir bei Tageslicht sehen, immer das zweite verbirgt, das später einmal der Sargdeckel zudeckt.“ Dieses Motiv des verborgenen Gesichts, oder auch das der Maske, die das eigentliche Gesicht verdeckt, findet sich häufig in der Literatur, etwa in Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, und da sich das mit den Erfahrungen der Leser oder wenigstens doch deren Phantasie gut verträgt, öffnet dies nachspürbar die Schichten eines Textes und verweist buchstäblich auf alles Mögliche hinter der augenfälligen Realität. Bleibt ein Autor indes allein der Oberfläche verbunden, kann es blitzen wie es will, persönliche Erkenntnisse werden daraus nicht gewonnen – man denke nur an die Gewitterszenen in Adalbert Stifters Der Nachsommer, die zwar immer was auslösen, den Protagonisten aber seelisch unverändert lassen, obwohl er als Ich-Erzähler auftritt. So hat Stifter zwar sicher einen der schönsten Romane der realistischen Epoche geschrieben, Einblicke in das Wesen des Menschen aber gewährt er nicht oder nur sehr bedingt. Man sieht also die Welt nach der Stifter-Lektüre durchaus nicht mit anderen Augen, sondern eher mit denen eines anderen, während die Formulierung, man habe gelernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen, ganz allein die eigenen Augen meint, und zwar im Sinne des Begriffes der Aufklärung. Dabei allerdings ist das berühmte „Sapere aude„, habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, nur die eine Seite der Medaille, die andere aber steht für den Mut, die eigenen Untiefen zu erkennen, weswegen der Marquis de Sade ganz zu recht als einer der großen Aufklärer gilt, Arsch an Arsch gewissermaßen mit Immanuel Kant. Allerdings will man als gemeiner Erdenbewohner der Spezies Mensch weder ständig vernünftig, noch sich seiner meist gut verborgenen Triebe und Ängste dauerhaft bewußt sein; es reicht einem also völlig, gelegentlich seine Vernunft vernünftig einzusetzen und sich ab und an mal seine Durchtriebenheit beblitzen zu lassen, weswegen die meisten Leser:innen demzufolge den de Sade eher nur mal kurz ob der Beschaffenheit des menschlichen Wesens befragen. Für Kant gilt dasselbe. Der Grund liegt in beiden Fällen nicht ganz zufällig darin, daß sich beide Werke in Sachen Leserfreundlichkeit und Unterhaltsamkeit nicht besonders hervortun, woraus sich die Frage ableitet, wer denn das womöglich tat, also die Ergründung des menschliches Daseins verband mit ausnehmend guter Lesbarkeit. Geübte Leser mögen Kafka rufen und Beckett und Joyce und Thomas Bernhard, man mag auch an Knut Hamsun und sogar an Karl Philipp Moritz erinnern, sie alle und noch einige mehr vermögen einem die Augen zu öffnen und die Welt mit den eigenen zu sehen – doch all diese Texte bleiben immer noch ganz und gar literarische, kunstvolle Schriften, von einer dünnen Membran von der Wirklichkeit getrennt; man sieht nicht wirklich anders auf die Welt und die Menschen, wenn man grad Kafka liest, eher sieht man, denke ich, anders auf sich selbst. Wenn man nun aber Louis-Ferdinand Céline liest, so ist die Sache nicht mehr ganz so einfach, dünkt mir. Sein Erstlingsroman Reise ans Ende der Nacht, der 1932 in Frankreich erschien, ist nicht nur (in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel) ein grandioses Lesevergnügen, nein, er verändert auch im richtigen Leben die Sicht auf dieses und insbesondere auch auf die Menschen, denen wir begegnen. Jedenfalls geht mir das so, und warum sollte ich dann nicht annehmen, daß es allen so geht? Wie nur macht Céline das, wie ist seine Sprache beschaffen, um eine solch direkte Ansprache und ein so hohes Maß an spannungsreicher Unterhaltung hinzubekommen? Liegt es daran, wie lakonisch er erzählt, ohne aber dadurch auch nur irgendeine Form von Distanz zu schaffen? Ist es sein Verzicht auf Ironie? Sein Humor? In jedem Fall ist Céline schuld daran, daß ich, seitdem ich die Reise las, nicht mehr wie sonst attraktive Menschen inmitten der Massen ausmachen kann – manches Mal nicht mal mich selber! Und dabei ist es mir ja durchaus nicht neu, was er über die Erniedrigten und Beleidigten schreibt, so daß es also tatsächlich die Art sein muß, wie er schreibt, wie er die menschlichen Angelegenheiten beleuchtet – nicht blitzartig eben, sondern in Dauerbeleuchtung, denn der Ich-Erzähler und Protagonist ist immer wütend, wenn er auch nie außer sich, sondern im Gegenteil immer in sich ist. Sicher scheint mir, auch mit Blick auf seine menschenfeindlichen und antisemitischen Pamphlete, die ja aus der selben Feder und dem selben Geist stammen wie seine literarischen Werke, daß Céline einfach nicht anders konnte als sich wütend und haßerfüllt ganz und gar direkt sozusagen auszukotzen, wobei er aber immer Mensch blieb im Sinne seines eigenen Menschenbildes, denn wer an den anderen kein gutes Haar läßt, kann der ein guter Mensch sein? Nun ja, er hielt sich womöglich nicht selten durchaus für einen guten Menschen, oder er glaubte, auf der richtigen Seite zu stehen, ein Recht darauf zu haben oder sogar die Pflicht, widerliche Haßtiraden in die Welt zu setzen, die Menschen zwingen zu dürfen, quasi mit seinen Augen auf sich selbst zu sehen. Aber machen das nicht alle so, sind nicht alle Menschen gleich schlecht und böse? Im Roman Reise ans Ende der Nacht jedenfalls läßt er daran keinen Zweifel, der Unterschied ist nur, daß die einen an ihrer Bösartigkeit und Verworfenheit keine Schuld haben, weil sie von denen, die schuldig sind, die Reichen und Mächtigen, daran gehindert werden – eben dies macht den Ich-Erzähler ja so wütend, denn wer nicht schuldig sein, nicht schuldig werden kann, dessen Leben hat keinen Sinn. Céline jedenfalls kämpft, so sieht es für mich aus, sein Leben lang wie ein Berserker darum, schuldig sein zu können, satisfaktionsfähig gewissermaßen, ganz ähnlich wie der alttestamentarische Hiob, der Gott, der ihm sein Unglück ja eingebrockt hatte, zu einem Prozeß zwang, in dem er, Gott, Angeklagter und Richter zugleich war; eine Geschichte sicher ganz nach dem Geschmack Célines.
Also, wie gesagt, ohne diese Art der Aufklärung eines Céline wäre die Aufklärung keine wirkliche, denn sie würfe, wie noch lange Jahre nach Kant, weiterhin tiefe Schatten, in denen die Ungeheuer unserer selbst hausen und im wahrsten Sinne des Wortes unbehelligt ihr Unwesen treiben. Diesen Bereich ausgeleuchtet zu haben ist somit sicher ein Verdienst Célines, selbst wenn ich mich nun meinerseits bemühen muß, dieses Licht wieder zu dämpfen, denn wer dauernd im Licht der Erkenntnis leben muß, verliert sein Urvertrauen und am Ende seinen Verstand, so ist zu befürchten, und dann, dann ist endgültig ewige Nacht – und das kann ja wohl niemand wollen.
Kärrnerarbeit Lektüresuche
Lange Jahre habe ich jetzt fast ausschließlich deutschsprachige Literatur gelesen, mit den großen Ausnahme Sören Kierkegaard, Samuel Beckett und James Joyce, weil ich mich bei Übersetzungen oft nicht wirklich einlesen kann. Das hat den einfachen Grund darin, daß ich mich leider oft frage, wie das denn im Original klingt und wie stark die Bedeutungsverschiebungen sind und wie viel an Vieldeutigkeit und Sinn verlorengegangen ist. Während es ja durchaus einen „deutschen“ Beckett gibt, weil er selbst deutsch sprach und bei den Übersetzungen mittat, sind die meisten Autoren ohne Einfluß auf den fremdsprachigen Text. Im Augenblick lese ich von Louis-Ferdinand Céline Reise ans Ende der Nacht in einer sehr gut lesbaren Übersetzung, die die Brillanz des Textes sichtbar werden läßt, wie ich annehmen muß. Ich weiß noch, wie ich vor dreißig Jahren Sartre und de Beauvoir las und mich immer fragte, ob die Texte im französischen Original auch so steif sind. Manches Werk aber, das ich beim ersten Lesen nicht wirklich mochte, bereitete mir dann beim zweiten Lesen viel Vergnügen, das beste Beispiel ist Ein Porträt des Künstlers als junger Mann von James Joyce, das durch die neue Übersetzung von Friedhelm Rathjen sehr gewonnen hat, wie ich finde. Natürlich ist das dann trotzdem ein deutsches Buch, der Sound des Originals kann nicht getroffen werden, was sich beim Vergleich mit diesem sofort erschließt. Allerdings ist mir das Englische einigermaßen geläufig, während mir andere Sprache ziemlich fremd bleiben müssen, so etwa das Polnische. Eine schöne Sprache, wenngleich ich kein Wort verstehe, viel, viel weniger als beim Französischen oder bei den germanischen Sprachen. Trotzdem will ich mich bald ein wenig der polnischen Literatur-Avantgarde des 20. Jahrhunderts widmen und auch der Gegenwartsliteratur, ich erhoffe mir da einiges, vor allem da von der deutschsprachigen Literatur heutigentags nicht allzu viel zu kommen scheint, wenn ich mir die letzten Jahre so ansehe, denn seitdem alles auf jugendfrische Verkaufbarkeit gezüchtet wird, kommen nur noch Bildungsbürgerkinder auf die Idee, Bücher zu schreiben. Das aber liegt wohl auch daran, daß einfach zu viele Leser sich mit Mittelmaß zufriedengeben, was man ohne zu zögern als Kardinalfehler bezeichnen kann. Ein gewisser Manfred Hinrich sagte wohl einmal, Leser, die nicht lesen können, sind ein Trost für Autoren, die nicht schreiben können, was ganz sicher stimmt, denn eben darauf beruht seit zweihundert Jahren das deutsche Buchhandelswesen, was mir aber alles so lange herzlich egal ist, wie ich sehr gute und herausragende Werke noch finden kann, die dann aber im Falle fremdsprachiger Texte auch noch gut übersetzt, nachgedichtet sein müssen, was ja wohl nicht zu viel verlangt ist. Bisher jedenfalls habe ich, oft schon im Zustand der Verzweiflung, immer noch etwas gefunden, das es wert ist, von mir gelesen zu werden, und eben deswegen bin ich eigentlich guter Dinge und will mich auch gar nicht beschweren. Wo kämen wir da hin!