Ein Mülleimer ist nie lange leer, dann aber lange Zeit voll, obwohl immer noch etwas hineinpaßt. So etwas läßt sich aber leicht erklären, da gibt es Fachleute für, die einem ratzfatz eine Zeichnung machen mit Zahlen dran. Wenn dann wirklich nichts mehr rein- und der Deckel nicht mehr zugeht, wissen wir aber, was zu tun ist und was passieren muß – der Mülleimer wird geleert, der Inhalt kommt in einen größeren Eimer, ist der dann voll, kommt alles in einen noch größeren, bis es am Ende im größten aller Mülleimer landet, der sogenannten Natur. So ist das, Kinders – und das ist kein Gleichnis. Jedenfalls nicht nur.
Eines Montags wirre Gedanken: Die Mülleimergesellschaft
Das Alte noch mal und neu
Ich wiederhole mich, weil die Welt sich wiederholt. Bei diesem Satz könnte ich es belassen und mich anderer Schreibarbeit zuwenden, aber ich will mal nicht so sein. Es gibt natürlich einiges, das seinen Reiz aus der Wiederholung zieht, periodisch wiederkehrende sportliche Wettbewerbe zum Beispiel. Nie ist einer für immer der Beste. Anderes, etwa das Auftauchen einer Diktatur auf der politischen Weltkarte, wünschen sich die meisten Menschen eher nicht, wenngleich in Diktaturen ja auch immer eine erkleckliche Anzahl von Menschen profitiert und es sich gut gehen läßt. Angela Merkel zum Beispiel ging es in der DDR offensichtlich gut, beruflich zumindest und wahrscheinlich auch sonst so, und daß sie sich von einer Kommunistin zur BRD-Bürgerin wandelte, hat sie mit vielen gemein, mit Jürgen Trittin oder Sahra Wagenknecht zum Beispiel, und will also nichts weiter heißen. Die eigentlich sich wiederholende Frage ist so immer die selbe, nämlich wer von einem wie auch immer gestrickten Gesellschaftssystem profitiert und wie viele das sind und was sie dafür tun, daß das so bleibt, zum Schaden der Nichtprofiteure.
Für den Moment fürchte ich, daß es für all die, die sich in ihrem Untertanengeist wohl fühlen, die Nörgler auf hohem Niveau eingerechnet, ausreicht, die beiden Parteien zu wählen, die eben dies, das persönliche Gutgehen, zu garantieren scheinen. Das gründet sich in der guten alten Wagenburgmentalität, die im schlimmsten Falle zu diktatorischen Zuständen und Angriffen gegen alles Fremde und als gefährlich Eingestufte führt, im nicht ganz so schlimmen zur Fortsetzung der schwarz-gelben Regierung. Nicht, daß es davon das Gegenteil gäbe oder auch nur eine grundsätzlich bessere Version, man erinnere sich nur an das Schröder-Fischer-Müntefering-Desaster und deren Politik gegen die Mehrheit der Menschen in diesem Lande, woraus dann nicht zuletzt eben die Situation entstand, die Merkel schlau ausnutzte, indem sie sich selbst, vielleicht für sehr lange Zeit, die Krone aufsetzte. So läuft das sich wiederholende Spiel, in dem die Rollen oftmals durchaus geschickt verteilt sind und in dem jeder Darsteller zum bestimmten Zeitpunkt bestimmte, mit Zahlen und Fakten garnierte Schlagworte raushaut, Wachstum, Arbeitsplätze, Wettbewerbsfähigkeit, Sicherheit und so weiter. Inzwischen sind viele Menschen davon dermaßen eingelullt, daß sie glauben, alle paar Jahre eine als die eigene angesehene Stimme in eine Urne zu entsorgen reiche völlig aus, ein Gemeinwesen für alle lebenswert zu machen. Dabei ist, Kanzler Schröder ist der Dank der Profiteure sicher, eine Entsolidarisierung in dieser unserer Gesellschaft in vollem Gange, was heißt, daß die zuvor genannten Eingelullten eben dies, das eben ist meine Befürchtung, nicht einmal mehr wollen, daß es nämlich allen gut geht. Das nennt man Wohlstandsverrohung.
Dabei gibt es so schöne Arten der Wiederholung, neu und damit gegenwärtig interpretierende nämlich – man sehe sich nur mal an, was auf manchen Bühnen dargeboten wird und was in (den wenigen) erstklassigen Romanen zu finden ist, wobei es ja sogar oft so ist, daß nur einzelne Ideen wieder aufgegriffen und in einen aktuellen Zusammenhang gestellt werden, und je besser die Ausführenden ihr Handwerk beherrschen, je mehr Witz mit hineinfließt, desto grandioser das Ergebnis. – Wie nun den Bogen wieder finden zur Politik und der dortigen Wiederholung des Immergleichfalschen? Puh! Ich glaube, darauf verzichte ich mal besser, sonst schläft mir mein Lesepublikum noch ein.
Wenn Männer & Frauen nicht mehr zum Masturbieren kommen, wie es früher einmal war
Schon in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts gab es Diskussionen zum Thema der drohenden Kommerzialisierung der Sexualität. Sicher, geklagt wird immer, bereits Goethe war der kommerzielle Reizüberfluß zu viel, Nietzsche glaubte deswegen schier wahnsinnig zu werden, und auch Heinrich Schirmbeck thematisiert das in seinem großen Roman von 1957 hier und da recht eindrucksvoll (verknüpft auch mit der Thematisierung der Überwachung des Einzelnen durch einen mißtrauischen Staat). Die Gefahr, die schon immer im Raume stand ist die, sich nicht mehr zurückziehen zu können, vor lauter Überflutung mit Reizen nicht mehr mit sich alleine sein, keine eigenen Bilder und Geschichten mehr hervorbringen zu können, nicht zuletzt auch mangels Übung. Es ist ja immer alles schon vorgefertigt da, man muß nur zugreifen.
Nee, das Buch habe ich nicht gelesen, hört man nicht selten, aber den Film habe ich gesehen. Wahrer, tiefempfundener Genuß entsteht so nicht besonders oft, möchte man meinen. Und dabei ist nicht das Problem jenes, daß es Verfilmungen gibt, die ja auch eigenständig gut sein können, oder Fast-Food, das ja nicht grundsätzlich schlecht sein muß, sondern daß alles immer überall und zu jeder Zeit verfügbar ist und der Mensch eben eher zu dem greift, was leicht zu konsumieren und oft auch billiger ist. Jederzeit Brot & Spiele, so gedeiht das Untertanenwesen der Postdemokratie am besten, ohne sich etwa durch Ausspähaffären aus der Ruhe bringen zu lassen. Verkümmert da, möchte man fragen, nicht die eigene Phantasie, beziehungsweise, wird sie etwa gar nicht entwickelt? Heutzutage sind im letzten Winkel des Landes alle denkbaren digitalen Produkte präsent, während man vor der digitalen Revolution und der damit einhergehenden Kommerzialisierung aller Lebensbereiche schon einiges in Kauf nehmen und wagen mußte, wollte man (als noch junger Mensch) zum Beispiel an pornografische Produkte gelangen. Gefälschte Schülerausweise waren da nur die eine Seite, man mußte sich auch noch reintrauen, in den Sex-Shop oder das Kino. So war das damals, liebe Kinder, in den alten Zeiten, also von den alten Ägyptern bis vor ungefähr zehn Jahren – anstrengungslos ging gar nichts! Und meistens mußte man sich seine Phantasien selber machen, Männlein wie Weiblein. Skurril, nicht?
Selbstverständlich ist das angestrebte Ergebnis, wenn wir mal bei diesem Beispiel des Masturbierens bleiben wollen, immer das selbe, seit Urzeiten, denn es ist Sex, wie Woody Allen mal richtig sagte, mit jemandem, den ich liebe. Aber nicht nur der Orgasmus als solcher wird angestrebt (den könnte man ja auch mit einem Sexualpartner haben), sondern das Ausleben, das Verlebendigen seiner eigenen Phantasie ganz mit sich allein in einem erzählenden Sinne, mit einer Geschichte – das Reizen der Geschlechtsteile bzw. der entsprechenden Hirnareale mit vorgefertigten Bildern aus dem Internet ist da etwas anderes, so ähnlich sie den eigenen im Prinzip auch sein mögen. Imgrunde ist das Masturbieren anhand von Pornografie also, wie schon angedeutet, ganz ähnlich dem Fast-Food-Fressen, es befriedigt den Hunger, ohne tieferen Genuß zu bieten. Natürlich ist das Ganze kein Weltuntergang, wenngleich die Herstellung des Produkts Pornografie eine Menge berechtigter Fragen aufwirft, wie etwa auch die Herstellung von Fast-Food, bedenklich aber scheint es mir zu sein, wenn keine Alternative zur Masturbationsvorlageabrufung mehr vorhanden ist – im eigenen Kopf, in der eigenen Phantasie! Sucht (und Abhängigkeit vom Dealer) kann die Folge sein, eben weil es keine Alternative weit und breit gibt und die Befriedigung immer ohne phantasieerzeugendes Eigentun auskommt. Sie sehen also, ich mache mir Sorgen, und zwar besonders um die Jugend, deren Köpfe immer mehr belegt zu werden scheinen von den Produkten der Industrie – denn alles wird bebildert, jede Lücke bedeutet eine Marktlücke, die gefüllt wird, sobald die Technik das zuläßt. Wie gesagt, Brot & Spiele in einer Welt, in der der Untertan fröhliche Urstände feiert!
Geschlechterkampf ums gemeinsame Glück
Die Welt ist ja voll von fürchterlichen Problemen – und immer wieder hört man von verschiedensten Menschen beiderlei Geschlechts, es fände sich nichts zum Drinverlieben und zum glücklichen Beisammensein. Manche allerdings nehmen, wenn keine erste Wahl zur Verfügung steht, einfach zweite Wahl, oder dritte, und wenn das auf Gegenseitigkeit beruht, können daraus glückliche Beziehungen entstehen. Keine Frage, ging früher doch auch, man kann ja nicht alles haben. Umfragen jedoch suggerieren gelegentlich etwas anderes, vor allem dann, wenn sie von Partneragenturen durchgeführt werden, daß es nämlich womöglich ganz und gar einseitig ein Qualitätsproblem gibt, denn die Partnersuche sei zunehmend schwierig – so jedenfalls sähen das viele alleinstehende Frauen über 40. Die Ursache sehen sie allerdings auch bei sich selbst, sie nämlich hätten heutigentags eben höhere Ansprüche und besäßen eine geringere Kompromißbereitschaft, und diesen Ansprüchen genügten viele Männer eben einfach nicht. Ha! Selten so gelacht. Natürlich nicht! Allerdings, so ein weiteres Ergebnis der Studie, seien auch viele gleichaltrige Männer schuld, die nur jüngere Frauen suchten. Wird ja immer doller! Jedoch haben Männer eben auch so ihre Ansprüche, ich meine jetzt solche Typen, die weder einen Mutterersatz suchen noch ein Devotchen, und da sieht es, meiner persönlichen, nicht ganz repräsentativen Umfrage zufolge so aus, daß Männer die zunehmende Tantenhaftigkeit bei „älteren“ Frauen eher unsexy finden, das Aufquieken beim Anblick süßer Babys menschlicher oder tierischer Art ist dafür ein recht sicheres Indiz, während sie bei jüngeren das stromlinienmäßige Angepaßtsein und das wie automatisch vor sich gehende Sprechen nun gar nicht akzeptieren können, vor allem, wenn das Letztere ohne Unterlaß per Telefon mit Mutti stattfindet. Tolle Klamotten richten da auch nichts mehr aus, weder die seidigschönen der etwas Älteren noch die rattenscharfknappen der noch Jungen.
Was also tun? Woher vollfunktionsfähige Männer nehmen (können immer, auch prima zuhören, Taschen voller Geld – aber nicht zu viel, Frau hat ja selbst welches, keene Wampe, sportlich, kultiviert, gehen nie auf Pornoseiten, gutaussehend, unbedingt seriös, aber auch kuschelig und in der Lage, Fahrräder zu reparieren und überhaupt ordentlich anzupacken usw.), wenn nicht stehlen? (Eben das allerdings wird oft versucht, nur so am Rande bemerkt.) Was soll frau denn auch mit Typen anfangen, die lieber ein paar Stunden in die Kneipe gehen oder mit dem Rad oder Motorrad über Land fahren, oder noch schlimmer, mal einfach so ohne Grund und Anlaß allein sein wollen, als der Liebsten die Füße und den ganzen Rest zu küssen oder gar ihr Rad zu reparieren? Ich sehe ein, diese Kerle sind nicht leicht zu akzeptieren, bei den Ansprüchen allerdings auch kein Wunder. Aber die Männer, das gebe ich zu bedenken, müssen angesichts ihrer Ansprüche die Frau der Wahl betreffend, intelligent, humorvoll, gebildet, gutaussehend usw., ja schließlich auch oft Abstriche machen (nicht zuletzt wegen der bei Frauen stärker als bei Männern verbreiteten Humorlosigkeit), oder müßten, wenn es keine Dinge gäbe, die das Leben angenehm machen können auch ohne Missesperfect. Sagen wir es ganz deutlich: die Frau hat ihr Alleinstellungsmerkmal verloren, was immer das gewesen sein mag, und der Mann wahrscheinlich auch. Also immer locker bleiben, ohne gleich zappelig zu werden. Dann wird alles gut.
Der gute Geist Ernst Platners: Zur Entwicklung des poetischen Ich Jean Pauls (Essay)
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Das poetische Ich ist mitten unter uns. Einmal in die Welt gesetzt, lebt es seiner Potenz nach ewig, wenn auch nicht in Ewigkeit. Es hat die selben Wünsche und Hoffnungen, die selben Ängste und ist den selben Deformationen ausgesetzt wie ein Mensch, der einen fünf Fuß hohen Körper mit Häuten und malpighischem Schleim und Haarröhren sein eigen nennt, so wie dies einmal Jean Paul (1763 – 1825) in seiner Selberlebensbeschreibung ausdrückte. Auf welche Art und Weise aber kam das poetische Ich in die Welt, wer hat es wie erschaffen, oder hat es sich gleichsam selbst erschaffen? Und vor allem auch: welcher Geist und welche kulturelle Praxis stand Pate bei seiner Entstehung?
Im zwanzigsten und auch im beginnenden 21. Jahrhundert ist das poetische Ich selbstverständlicher Handlungsträger aller Art Erzählungen. Es erscheint eigenständig-inventorisch im Rahmen einer zwischen Schriftsteller und Leser vereinbarten Regel, die Erich Kleinschmidt folgendermaßen auf den Punkt bringt:
„Der Möglichkeit aus der Sicht des Autors, seinen Textsinn nicht völlig preisgeben zu müssen und doch ›verstanden‹ zu werden, entspricht die Fähigkeit des Lesers, einen Text für sich zu begreifen, ohne sein Bedeutungsangebot auszuschöpfen. Beide Seiten gestehen sich dabei nicht nur durch Kompromiß ausgehandelte Spielräume bei Angebot und Auslegung zu. Sie legen Wert darauf, der Darstellung Geheimnis und Freiheit zu belassen. Es ist ein Abkommen zwischen den am Text beteiligten Partnern, Distanz trotz kommunikativen Kontakts zu wahren.“[1]
Kleinschmidt spricht die der erzählenden Literatur notwendigen Spielräume an, die zugleich der Phantasie und Arbeit des Autors, ebenso aber auch der des Lesers geschuldet sind. Der oder die Protagonisten ›bewegen‹ sich in eben diesem, durch Buchstabe und Wort geschaffenen Raum, doch es sind nicht etwa einer Idee oder Norm unterstellte Handlungsträger, die gleichsam inventarisch heldenhaft das Erwartete bedienen, sondern im Grunde unberechenbare, selbst- und eigenständig handelnde Charaktere, die vor dem geistigen Auge des Leser lebendig agieren. Diese seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts auftretenden Ichs, einer der ersten Versuche findet sich in Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon (Urfassung 1766/67), ersetzen sukzessive weitgehend die noch bis in die Barock-Literatur handlungstragenden normativen Ichs, denen es nicht an Erlebtem fehlt, durchaus aber an Innenleben und eigenständig-subjektiver Reflektion – sie sind Helden alter Prägung. Die »neuen Helden« sind hingegen in der Lage und willens, ihr Tun zu reflektieren, von Grund auf zu zweifeln, Shakespeares Hamlet mag hier als ein früher Vorläufer gelten, gerade so wie es der urbane Mensch, der Bürger des ›Jahrhunderts der Aufklärung‹ für sich in Anspruch nimmt. Daß eben dieses »neue Ich« ausgerechnet in der noch relativ jungen literarischen Form des Romans Widerhall findet, ist bei der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmenden Lust am Lesen und den damit einhergehenden Fortschritten im Buchhandel durchaus nicht verwunderlich, ist hier doch nicht nur die Möglichkeit gegeben, exemplarischen Ichs auf Augenhöhe zu begegnen, sondern ihnen auch beim Selberdenken gleichsam zuzusehen, also Einblick in die Psyche eines anderen, wenn auch nur in die eines (in doppeltem Sinne) vorgestellten Menschen zu erlangen.
Doch auch wenn die Entstehung des poetischen Ich aus literaturhistorischer Sicht einzelnen Schriftstellern zugeschrieben werden kann, dies gilt ein gutes Jahrhundert später ja auch für den ›stream of consciousness‹, so ist es doch notwendig, den der Setzung vorauslaufenden Prozeß aufzuzeigen, da nur so ersichtlich wird, wie die Möglichkeit eines oder des poetischen Ich aus dem Geist einer Zeit entstanden ist, in der philosophische, soziokulturelle und künstlerische Prozesse sich gegenseitig vielfältig beeinflußten, Prozesse, die die Namen Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Klassik oder Romantik tragen. Doch auch einzelne Denkumbrüche oder etwa Fortschritte in der Medizin trugen seit dem späten 17. Jahrhundert zur Individualisierung als solcher und der daraus entstehenden lebendigen Darstellung des Individuums bei, die in der Frühaufklärung angestoßene Trennung von Recht und Moral beispielsweise oder die Beurteilung des Wahnsinns als individuelle, keineswegs ansteckende und unter Umständen heilbare Krankheit. Das Schlagwort der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ deutet die Vielfalt einer Welt an, die sich uns Heutigen und nachfolgenden Generationen insbesondere durch die damals erschaffenen literarischen Charaktere zu erschließen vermag, und so ist es auch in hohem Maße lohnenswert, die Entstehung des poetischen Ich am Beispiel Jean Pauls zu untersuchen, der sich im Laufe seiner Entwicklung zum Schriftsteller geradezu gezwungen sah, seine vielfältigen Ideen nicht mehr den typisierten Figuren seiner Satiren anzuvertrauen, sondern sie den lebendigen Charakteren seiner Romane zu überlassen.
Johann Paul Friedrich Richter trug im Jahr 1781 als junger Mensch eine ganze, fleißig sich angelesene Welt nach Leipzig, um dort sein theologisches Studium anzutreten. Auf der Flucht vor seinen Gläubigern, drei Jahre später, hatte er einen geliehenen Mantel auf dem Leib und eine Idee im Kopf, die für ihn selbst noch keineswegs konkret faßbar war, ihn aber sein Schriftstellerleben lang nicht verließ: die des poetischen Ich. Zwar blieb ihm, der sich bald schon Jean Paul nannte, die Liebe zur Satire zeitlebens erhalten, doch sah er sich nach Jahren der Erfolglosigkeit schließlich geradezu genötigt, seine Einfälle eigenständig denkenden und handelnden Wesen anzuvertrauen, auf daß sie täten, was sie wollten im Rahmen des Romans und im Gemüt des Lesers. Das Interesse des jungen und weder mit Geld noch Beziehungen gesegneten Studenten in Leipzig richtete sich zunächst auf die Philosophie des »Leibnizianers« Ernst Platner (1744 – 1818), und es spricht einiges dafür, daß es der Einfluß der von Ernst Platner vertretenen, der Systemphilosophie skeptisch gegenüberstehenden und ausdrücklich realitätsnahen Philosophie ist, die den Boden bereitet für den Schriftsteller Jean Paul. Platner war, wie Günter de Bruyn bemerkt, als Philosoph durchaus mehr Aphoristiker als Systematiker[2] und zudem den Kunstauffassungen der Zeit eng verbunden, welche er öffentlich in seinen beliebten, auch von Jean Paul besuchten Vorlesungen vorstellte. Für Platner ist, so de Bruyn, »die Empfindsamkeit des Künstlers die Quelle jeder Kunst«, und zu seinen Forderungen gehörte auch die Darstellung politischer Zustände der Gegenwart und, damit einhergehend, die Entwicklung gesellschaftskritischer Satire,[3] und in eben diese Richtung bewegt sich Jean Paul zunächst und auch noch, als ihm 1784 mit dem Abbruch des Studiums in Leipzig eine anderweitige berufliche Orientierung als die in Richtung Schriftstellerei weder möglich noch wünschenswert schien.[4]
Es waren sicher besonders Platners ästhetische Vorlesungen[5] und die dort zum besten gegebenen pragmatischen Überlegungen, die Jean Paul, und da war er nicht der einzige, beeindruckten. So ist das Genie für Platner nicht jener von der Natur begünstigte Mensch, der nicht weiß, wie er zu (s)einer Kunst gekommen ist, die er nicht hat erlernen können; vielmehr sei Genie, so Platner, »doch eigentlich nichts anderes, als Thätigseyn im höhern Grade«.[6] Dies bedeutet schlichtweg, sich über die gewöhnlichen Menschen erheben durch harte geistige und schöpferische Arbeit, eine Sache des Willens und nicht nur eine des Talents, das natürlich vorausgesetzt wird und so gesehen ›aus der Natur‹ kommt. Selberdenken und ein daraus resultierendes Sichselbsterkennen war für Jean Paul bereits sehr früh hoher Anspruch; dies zeigen einige der Schriften, die er als junger Mensch ausdrücklich »blos für mich«[7] verfaßt, um zu üben. So formuliert der erst siebzehnjährige Johann P. F. Richter im Dezember 1780 noch vor Studienbeginn:
„Jeder räsonnirt ein wenig über’s Genie: ieder schwache Kopf wil von grossen Köpfen reden. Über Genie solte niemand als ein Genie selbst schreiben. Es kent ein Genie am besten, wenn’s nur sich kent; es hat die Kräfte dazu, eben weil es ein Genie ist. Und sogar dieses selbst wird schlecht darüber schreiben. Denn’s ist sich selbst ein Räzel, welches es nicht entziffern kan, es wandelt in Nacht, und geht dunkle Gänge. Es kent an sich nichts als seine Unergründlichkeit, und es allein kent sie am besten.“[8]
Doch an eben dieser Unergründlichkeit will er arbeiten und ist bereit, die dunklen Gänge zu gehen. Alles a priori Vorausgesetzte ist ihm dabei ebenso zuwider wie alles Teleologische, denn er muß sich der Welt aussetzen, so wie er sie erfährt, auch wenn er noch ›allein‹ ist, ohne die späteren Figuren seiner Romane und Erzählungen. Zunächst aber geht es ihm eher um die in den Systemen (fest-)steckenden philosophischen Gedanken, die er einzeln und strikt subjektiv, und damit ganz im eigentlichen Sinne der Aufklärung,[9] zu überprüfen gedenkt. Engelhard Weigl schreibt zu dieser Vorgehensweise:
„Die Einsicht in die subjektive Vermitteltheit eines jeden Urteils über Seiendes hat zur Voraussetzung den Gewinn einer größeren Autonomie des Erkennenden. Hinter der Gleichsetzung von Philosophie und Selbstdenken steht der Protest gegen jede dogmatische Verpflichtung des Individuums auf nicht einsehbare und überprüfbare Inhalte.“[10]
Glauben an vermeintlich Gegebenes ist für Jean Paul, abgesehen von einer Art Kinderglaube an Gott, ohnehin unmöglich, denn dies kommt, davon ist er dann doch überzeugt, eher den »minder erleuchteten Leuten« zu, denen es an der Kraft mangelt, manche »teleologische Säzze«[11] auf ihren Gehalt hin zu prüfen. Im Tagebuch meiner Arbeiten beklagt der frischgebackene Student den zu beobachtenden je und je auftauchenden Dogmatismus. Er schreibt:
„Warum wil uns doch ieder Lerer der Philosophie das System aufdringen, welches er für’s ware hält; warum wil ieder Professor aus seinen Schülern Anhänger der Sekte machen, welche ihm die beste scheint? – […] Jeder verfelt seines Zweks, der uns denken will leren, indem er uns an sein System ankettet – das heist nicht unsern Verstand, sondern unser Gedächtnis üben. […] Nichts ist nötiger als Selbstdenken, nichts ist schätzbarer, und vielleicht auch nicht(s) schw(erer) zu erwerben.“[12]
Diese kurz nach Studienbeginn aufgezeichnete Einschätzung zeugt von einer gewissen Enttäuschung gegenüber der Lehrrealität, deutet aber auch eine Radikalität im Denken an, die sich der junge Student geradezu selbst einzutrichtern beginnt, indem er immer wieder seine Unabhängigkeit im Denken proklamiert. Er bezieht diese unbedingte Forderung nach Eigenständigkeit ganz wesentlich auf die Philosophie im weiteren Sinne, von der er bereits in Schulzeiten so viel wie nur möglich aufgenommen hat, indem er mit kaum vorstellbarer Ausdauer schriftliche Auszüge aus Büchern verfertigte.[13] Diese umfangreiche, insgesamt aber recht unsystematische Wissensaufnahme, dieser Selberlernversuch anhand glücklicherweise vorhandener Werke, führte fast zwangsläufig zu der Einschätzung, durch jede Art spezieller Philosophie eingeschränkt, ja in der eigenen Entwicklung insgesamt beschränkt zu werden. Engelhard Weigl stellt dazu fest:
„Selbstdenken als Inhalt und Ausgangspunkt jeden Philosophierens wird für Jean Paul zur programmatischen Forderung. Philosophie, will sie sich unterscheiden von einer Schulmetaphysik des leeren Wortkrams, ist nur realisierbar als unbehinderter Erkenntnisprozeß von eigener Erfahrung und selbständiger Reflexion.“[14]
Der fast ohne finanzielle Mittel und ohne jede Protektion in Leipzig mehr schlecht als recht über die Runden kommende Student hatte der Welt nichts weiter anzubieten als radikales Denken, das ihm, zumal durch die zu schreibenden Satiren, zugleich die Oberhoheit bedeuteten sollte über eben diese Welt. So ist ihm auch das Selberdenken im Sinne der Aufklärung nicht genug. Weigl fährt fort:
„Bei Jean Paul erfährt die allgemeine Forderung, selbst zu denken, allerdings eine entscheidende Umformulierung. Der Protest im Namen des Selbstdenkens wendet sich nicht nur gegen Aberglauben und gegen die in Paragraphen geordnete und gegen subjektive Erfahrung abgeschirmte Schulphilosophie, sondern gegen alles Erlernte, d. h. gegen alles nicht selbständig und selbsttätig Erfundene. Selbstdenken beinhaltet für Jean Paul nicht nur die Aufforderung, das Überlieferte seiner Autorität zu entkleiden und ohne Rücksicht zu überprüfen, sondern es selbst hervorzubringen. Alles was nicht selbständig erarbeitet wurde, erscheint als aufgezwungen.“[15]
Diese Herangehensweise birgt allerdings ein hohes Risiko, und Jean Paul wird sein Leben lang immer irgendwie ›zwischen allen Stühlen sitzen‹, während sich manch mittelmäßige Gestalt zu Lebzeiten unverdientermaßen eines hohen Ansehens erfreut. Doch wie besonders die frühen »blos für mich« angefertigten Schriften zeigen, vor allem Übungen im Denken und Tagebuch meiner Arbeiten, ist es ihm bitter Ernst mit seiner selbstgestellten Aufgabe. Ein Jahrhundert später wird Friedrich Nietzsche seinen unausgegorenen Gedanken der »Umwerthung aller Werthe« auf die herrschende Moral münzen, doch Jean Paul geht es zunächst ›nur‹ um die Befreiung des Individuums von der Last der vielfältigen Wahrheiten. Das heißt für ihn allerdings nicht, diese Philosophien und ›Weltweisheiten‹ zu ignorieren, um sich etwa in die ›Öde der Phantasterei‹ zu verlieren, sondern sie intensiv zu prüfen. Die Ergebnisse, sowohl ernsthafte Abhandlungen als auch Satiren, präsentiert er der ›Welt‹, die sie allerdings nicht haben will.
Noch ist der Schriftsteller Jean Paul der einzige Selbstdenker im eigenen Kosmos, ein poetisches Ich ist nicht in Sicht. Dabei ist er sich durchaus bewußt, daß er dem eigenen Denken nur über das Medium der eigenen Sprache Ausdruck verleihen kann, verbunden mit der Erschaffung eigener Inhalte. Unter der Überschrift Malen Wort‘ unsern Selenzustand? versucht er sich zunächst Gewißheit zu verschaffen, wie Sprache funktioniert und unter welchen Umständen sie ihre Wirkung nicht verfehlt. Er schreibt:
„Die Worte drükken nie das ganz aus, was man fült. Sie geben nur einen Umris. Wen heftiger Affekt drängt, findet nie die Worte, die seinen Selenzustand hinmaleten. Sie sagen nur, daß etwas da sei; aber nicht, was, und wie es da sei. […] Ein par Worte sind oft genug, um seine Sel‘ in einen Zustand zu versezzen, den keine Worte malen können. – Aber ie besser der Umris ist, den du iezt von deiner affektvollen Sele machst, desto leichter wird’s dem Leser, das Gemälde zu vollenden. Göthe ist ein solcher Zeichner. Er trift iede Saite des empfindenden Herzens – hat nicht ganz Deutschland ihm geweint?“[16]
Auch wenn der junge Jean Paul es nicht gleich in alle Welt hinausposaunt, so wird doch bereits in diesen Übungen deutlich, wie sehr er mit dem Gedanken spielt, wahrhaftige, seelenvolle Menschen nicht etwa in Worte zu kleiden, sondern sie durch Worte zu erschaffen, zu verlebendigen. Natürlich profitiert auch er von Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774), dessen nicht nur segensreiche Wirkung die Strahlkraft eines poetischen Ich erkennen lassen. Zudem stand ihm mit diesem Beispiel die Möglichkeit, mit dem Schreiben Geld zu verdienen, recht deutlich vor Augen.[17]
In seinem Studium wendet sich Jean Paul dann der Philosophie zu, mit starker Präferenz zu der Lehre Ernst Platners, wenn auch bedacht sein will, daß die Richtung des jeanpaulschen Denkens sich bereits in den Übungen deutlich zeigt. In Platners Lehre und besonders seiner Ästhetik findet sich jedenfalls nicht nur ein offener Umgang mit philosophischen Ideen, sondern zudem die realistische Einschätzung des Genies als eines auf hohem Niveau selbstbewußt Tätigen. Jean Paul muß sich also durchaus angesprochen gefühlt haben, als er in den ästhetischen Vorlesungen folgendes so oder ähnlich hörte:
„Denn im Genie sind die Talente von ganz eigenem Charakter, und es machen folglich gemeine Talente und Geist noch nicht ein wahres Genie aus, sondern Talente, die auf eine ganz eigene Art charakterisirt sind, in Verbindung mit einem hohen Grade von Geist. Diese Art von Genie kann nun bei allen möglichen Arten von Kenntnissen und Beschäftigungen Statt finden, da Alles, was in der Welt gelehrt, gelernt, dargestellt und verhandelt wird, Beziehung auf den Menschen hat, und in einer nähern oder entfernteren Verwandtschaft steht mit der Theilnehmung an dem Geheimnisse der Welt und des menschlichen Daseyns.“[18]
Ernst Platner, Philosoph, Anthropologe, Arzt und wohl auch überzeugter wie überzeugender Lehrer[19] in einer Person, verknüpft den Geniebegriff, wie schon angedeutet, mit dem Suchen und Forschen, dem Lehren, Lernen und vor allem auch dem Darstellen. Auch wenn dies keine völlig neue Deutung ist, so ist sie doch anschaulich und bodenständig vor allem in bezug auf das Talent, das in jedem Fall erkennbar ist und nichts Mystisches an sich hat. Während Immanuel Kant den Begriff des Talents im Kontext der Vollkommenheit (in praktischer Bedeutung) abhandelt, verbindet Platner es mit der freien Wahl einer Tätigkeit, für die zunächst einmal nur Talent vorhanden sein muß. In den Vorlesungen über Ästhetik heißt es kurz und knapp: »Man hat Talent, wenn man die Art von Einbildungskraft besitzt, welche zu der Art von Kenntnis der Geschäfte erfordert wird, die man sich erwählt hat.«[20] Dies muß zunächst auf den realen, tätigen Menschen bezogen werden, auf den Mechaniker, den Chemiker, den Historiker, den Musiker (›Tonkünstler‹), auf den Arzt und auf den Politiker, aber natürlich auch auf den Philosophen. Das für Jean Paul Wesentliche liegt dabei sicher in einer weiteren Verknüpfung, die Platner noch vor dem oben Zitierten anspricht, der des Talents mit Geist. So heißt es:
„Was ist denn aber eigentlich Genie? Nichts anders, als Talent verbunden mit Geist, oder Geist von Talenten begleitet, wiewol Ersteres besser ist. Allein dies ist noch nicht hinreichend, sondern es ist nöthig, daß wir den Begriff Geist nochmals näher untersuchen und aufklären. Es ist dabei nöthig, daß wir den alten Spruch […] vorbringen, nämlich: daß der Mensch nur alsdann ein guter Mensch sey, wenn er Reizbarkeit der Seele hat, um durch das, was wir Welt, Natur und Mensch selbst heißen, gerührt zu werden und Antheil daran zu nehmen.“[21]
Der nach Teilhabe strebende Mensch hat, folgt man Platner, nichts von einem weltabgewandten, ätherischen Genie, sondern ist in ganz und gar praktischer Weise der Gemeinschaft verpflichtet aufgrund seiner Fähigkeiten und seines daraus resultierenden Potentials. Der platnersche Begriff des Geistes ist somit sozial konnotiert, beschränkt sich aber durchaus nicht auf den Bezug zu seelsorgerischer oder ärztlicher Tätigkeit. Platner führt anschließend aus:
„Diese Reizbarkeit der Seele und diese Theilnehmung an Allem, was Welt und Menschheit angeht, äußert sich auf dreierlei Art, nämlich ein solcher Mensch denkt entweder über das Räthsel der Welt und des menschlichen Daseyns nach, oder er wird durch Gegenstände der Natur und wirklichen Welt vorzüglich gerührt, oder er nimmt davon Anlaß zu dem, was man im edelsten Sinne des Wortes Thätigkeit nennt. Alle guten Menschen haben folglich entweder Geist zur Philosophie, oder Geist zur Kunst, oder Geist zur Thätigkeit. Dieser Geist nun in Verbindung mit Talenten macht den Grund vom Genie aus, und wem es daher in den Wissenschaften, in den Künsten und im Handeln an Geist fehlt, dem fehlt es auch an Genie.“[22]
Dem guten Menschen alias Genie ist Jean Paul in jedem Fall bei Ernst Platner begegnet. Aber es ist eben nicht der von Kant geprägte harmonisierende Begriff des Genies, den Platner lehrt, auch wenn er nur um Nuancen abweicht. Dies aber genügt, die Gewichtung der einzelnen Voraussetzungen zueinander so zu gestalten, daß dem aufmerksamen Zuhörer nicht ein festgefügtes Sein des Genies vor Augen steht, sondern das von einer Grundlage aus sich vollziehende konkrete Werden. Ein guter (oder auch hoher) Mensch ist so nicht nur auf höchstem Niveau tätig, sondern er reibt sich auch, weil er mit dieser ständig in Berührung ist, an der Wirklichkeit, ein Zustand positiver und dauerhafter Anspannung, der für Platner weder in erster Linie Folge von etwas Gottgegebenem[23] ist noch etwas dauerhaft Gültiges. Die Notwendigkeit, sich aufgrund seiner ›Talente‹ eigenständig zu entscheiden, zeigt sich nochmals in folgendem Passus:
„Aber, wird man hier sagen, man kann sich doch das Genie nicht selbst geben!? Wir antworten: Wenn man sich’s auch nicht selbst geben kann, so kann man sich’s doch nehmen, aber freilich auch nehmen lassen. Denn Genie ist eigentlich doch nichts anderes, als Thätigseyn im höhern Grade; daher es wirklich auch schwerer zu seyn scheint, Köpfen Talent einzuflößen, als ihnen Genie zu geben.“[24]
Auch am Beispiel des Juristen macht Platner deutlich, er hebt hier unter anderm Christian Thomasius und Montesquieu hervor, wie sehr der Jurist ganz Mensch sein soll und eben nicht nur Fachmann sein darf:
„Also durch Theilnahme an Weisheit und Thorheit, an Rechtschaffenheit und Bosheit, an Glückseligkeit und Elend in der Welt, durch Gefühl und Thätigkeit für Alles, was Bezug auf Veredelung und Beglückung der Menschen hat, unterscheidet sich das juristische Genie von jenen alltäglichen und gewöhnlichen Rechtsgelehrten.“[25]
Der hier vorgestellte ›ganze‹ Mensch mußte für den Studenten Jean Paul gleich doppelte Bedeutung erlangen, denn nicht nur ist er selbst bereits in jungen Jahren an allem Wissenswerten interessiert, sondern auch bestrebt, dies sinnvoll nach eigenen Erkenntnissen und damit wirksam in die Praxis umzusetzen. So sieht er womöglich seine eigenen Vorstellungen beschrieben, wenn Platner feststellt:
„Unter den Händen des Genies also werden alle Kenntnisse zu Philosophie, alle Arbeiten zu einem gewissen eigentlich-menschlichen Enthusiasmus, und von Kunstwerken versteht es sich von selbst, was sie unter solchen Händen werden müssen.“[26]
Platner geht es, wenn von der Entstehung der Kunst die Rede ist, keineswegs um einen ›göttlichen Funken‹, sondern um das konkret faßbare Entstehen des Gewollten, das eben nicht nur sachgerecht sein darf, sondern lebendig sein muß. Für den angehenden Schriftsteller Jean Paul muß hier zumindest die Ahnung entstanden sein, daß ein interessierter und ›lebendiger‹ Schriftsteller nicht einfach trockene Figuren erfinden darf, sondern lebendig eigenständige, auch wenn sie metaphorisch für einen Typus stehen, wie dies in Satiren, die er zu schreiben gedachte, unbedingt notwendig ist. Doch nicht nur das reale Weltgeschehen mitsamt dem agierenden ›Personal‹ ist zu beobachten, der Schriftsteller muß auch sich, sein eigenes Wesen, so gut wie nur möglich (er-)kennen, schöpft der Mensch doch wesentlich aus sich selbst,[27] und auch die für das literarische Schreiben grundsätzlich benötigte Einbildungskraft beziehungsweise Phantasie stammt aus seinem ›Innern‹. Eben diese Herangehensweise lehrt Platner in aller Deutlichkeit und betont, daß besonders für das Genie die Kenntnis seiner selbst und demzufolge auch die Beherrschung der eigenen Phantasie unabdingbar ist. Das Genie könne somit durch »eine Bewegung im Organe des Gehirns« Vorstellungen bilden.[28] Platner führt aus:
„Allein es ist hierbei zu bemerken, daß diese Bewegungen allezeit mit Theilnahme der Seele geschehen müssen, sowie jede andere Bewegung unserer Muskeln auf gleiche Weise geschieht. Ebenso verhält es sich auch mit der Phantasie, welche eine ausnehmende Geneigtheit besitzt, Vorstellungen zu wecken und zu nähren, auch zu untersuchen, welche der Seele willkommen sind, wogegen sie bei solchen fast gar nichts thut, welche sie nicht vorzüglich interessiren. Und so macht es auch das Genie überhaupt: Es sucht sich aus der ungeheueren Masse von Vorstellungen immer nur diejenigen heraus, welche es ganz vorzüglich interessiren, und eben darum hängen die Talente ganz vom Genie ab. Denn das Talent ohne Genie hat eine gewisse Organisation, vermöge welcher bloß gewisse Vorstellungen vorzüglich klar werden; aber beim Genie hat die Seele für gewisse, sie vorzüglich interessirende Arten von Vorstellungen das Organ gleichsam ausgeschliffen.“[29]
Dies alles fällt bei Jean Paul auf fruchtbaren Boden, vor allem sicher auch, weil Platner die notwendige »Kenntniß der Regeln der Dichtkunst«[30] hervorhebt. Die Vermittlung der Kerngedanken als Realien ist für Platner in jedem Fall selbstverständlich, und eben aus diesem Grunde ist ihm auch die vermittelnde Sprache wichtig, bliebe doch ohne sie, so führt er aus, von vielen einfühlsamen Werken nichts übrig als möglicherweise richtige, aber bereits bekannte, trockene Gedanken, die als ein »gemeines Gerippe« in ihnen stecken. So ist es nur folgerichtig, daß er eine Lanze bricht für eine poetische, empfindsame Sprache, die nicht nur Inhalte vermittelt, sondern Wirkung auf den Leser zeitigt, die trockene Materie allein nicht hervorbringen kann. Platner betont,
„wie gedankenlos es ist, wenn von einer gewissen Classe von Menschen gegen eine gewisse Art von Sprache geeifert wird, weil man glaubt, daß damit schlechterdings keine sogenannten Realia verbunden werden könnten. Aber was in aller Welt sind denn Realien? Doch nichts anders, als solche Dinge, welche den Menschen weiser, besser, zufriedener und glückseliger machen? Wenn aber dem so ist, wie kann man dann noch eine Sprache verwerfen, welche dazu dient, unsere Ideen aufzuhellen und unser Herz zu erwärmen?“[31]
Platner rekurriert nicht nur auf in lebendiger Sprache geschriebene, im weitesten Sinne philosophische Werke, sondern er nimmt den Dichter ausdrücklich mit auf in die Phalanx der Genies, doch seien eben nicht die von der Eingebung eines Gottes oder Dämons abhängigen Dichter die wahren Genies, sondern »eine andere Art«. Diese, so heißt es,
„sind vielmehr Genies selbst, und diese sind Dichter im engsten und wahrsten Sinne des Ausdrucks, weil sie das Gefühl und die Theilnahme für Alles, was Natur und Welt und Menschheit angeht, zu den stärksten Empfindungen stimmt und zu Kunstergießungen antreibt.“[32]
Es ist somit keineswegs allein die Natur, die der Kunst qua Talent die Regel gibt, doch der Dichter schöpft, so gut er sich selbst kennen mag, eben auch nicht nur aus sich selbst, so wie jene poetischen Nihilisten aus den Reihen der Romantiker, denen Jean Paul zwei Jahrzehnte später in der Vorschule der Ästhetik (1804, zweite, erweiterte Auflage 1813) unverhohlen Ich-Sucht vorwirft.[33] Dies bedeutet im Falle Jean Pauls allerdings nicht, das eigene Ich zu verstecken, sondern vielmehr, es durch Sprache, durch ›Sprachkunst‹ zu enthüllen mittels eines konkreten Zugriffs auf die Wirklichkeit im Sinne jener »Theilnahme für Alles«.
Jean Paul versteht die platnerschen Überlegungen insgesamt als eine Anweisung zu einer Art poetischem Pragmatismus. Selbst das Übersinnliche, etwa die Frage nach Seelenwanderung und Wiedergeburt, wird so nicht als unerkennbar angesehen, sondern als in, mit und durch Sprache begreifbar, soweit es Teil eines wesentlich künstlerischen, nicht eines nur philosophischen Prozesses ist. Die Aufgabe, dies »Alles« zu ergründen, schien dem jungen Schriftsteller Jean Paul zunächst am besten in Form der Satire zu verwirklichen. Noch in der Leipziger Zeit entsteht Grönländische Prozesse, oder Satirische Skizzen (1783-1784), nach dem Lob der Dumheit (1781-1782) ein neuerlicher Versuch, als freier Schriftsteller Geld (für die angestrebte Freiheit) zu verdienen. Wasser auf seine Mühlen war dabei womöglich auch die von Platner so redegewandt vorgetragene Überzeugung, »daß das Genie sich schon durch seine Sprache verrathe«[34], und in dieser Hinsicht muß der junge Student doch bereits sehr von sich überzeugt gewesen sein. Zwar siedelt Platner das Genie nicht ausschließlich in den Künsten an, betont aber eben doch, daß das Genie vorzüglich »Erfindungskraft in philosophischen Werken«[35] zeige. Der Student Richter hat dies für sich nicht wortgetreu antizipiert, doch da die Werke Jean Pauls in aller Regel gedanklichen Tiefgang wenigstens sprachgewaltig parodieren, und damit gewissermaßen auch zeigen, ist ihm weder die von Platner so hoch eingeschätzte Erfindungskraft[36] abzusprechen noch eine ausgeprägte und vielstimmige Sprachgestaltung. Auch die dritte Eigenschaft des Genies, die Geschicklichkeit,[37] dürfte sich Jean Paul ans Revers geheftet haben. Zu dieser gehöre, so Platner, zweierlei, nämlich »Leichtigkeit und Anmuth«,[38] doch beziehe sie sich »niemals auf Einbildungskraft oder Vorstellungsvermögen, sondern einzig und allein auf das Practische und die Gabe auszuführen und zu handeln«.[39] Letzteres tat der junge Jean Paul ohnehin, wenn auch sicher nicht leicht und anmutig, indem er mit kaum zu begreifendem Eifer, oft hungernd und frierend, aus Büchern und Zeitschriften das ihm Wichtige abschrieb, um dann im Laufe der Jahre immer mehr zu eigenen Texten überzugehen, die auf eben jenem Wissen fußten.[40]
Ernst Platner bemüht sich in seiner Ästhetik auffallend um die Gestaltung eines Menschenbildes, das besonders auch ein Genie als integralen Bestandteil des Gemeinwesens vorstellt, als eines in der Mitte der Gesellschaft auf höchstmöglichem Niveau engagiert tätigen Menschen, der ausdrücklich nicht allein seinem eigenen Wohl dient, so wie dies bereits einem Christian Thomasius ein Jahrhundert zuvor vorschwebte. Jean Paul nimmt dieses Bild insofern auf, als daß er in der Form der Satire, die er ja schon mit Beginn des Studiums für sich entdeckt hat, radikale Kritik an den Zuständen der ›großen Welt‹ übt. Seine Anteilnahme an der Welt ist zur Zeit seines Studiums jedoch noch ganz unbelastet von der Realität. Max Kommerell malt das Bild des jungen, schriftstellernden Studenten folgendermaßen:
„Unumschränktheit des Ich […] ist der Beruf, dem dieser noch ungeschickte Geist entgegenlebt. Wie gefährdert war aber diese Unumschränktheit in einem Geschöpf, das bildlich gesprochen ohne Tastsinn und ohne Auge geboren schien, die Wahrnehmungen von außen nur als Ufer rastlos fließender Eingebungen benutzen konnte, und in der Wirklichkeit des Lebens ein ausgehungerter Schulbub war, ohne Mündigkeit und ohne Begriff von Gesellschaft, und bloß mit abgetragener, aufklärerisch protestantischer Gottesgelahrtheit behängt – in einem Geschöpf also, das mit Staat, Sitte, Beruf, Weib und Geschäft bloß in der Form der Niederlage bekannt werden konnte und dessen gemischter Gedankenbesitz den Seltenheitswert der Unbrauchbarkeit hatte? […] Also dichtete er sein Ich gewaltsam ab. Die grillen- und greisenhaften Äußerungen dieses Jünglings sind als Selbstbehauptung zu verstehen. […] / Darum sind die Satiren dieses so echten Menschen unwahr geraten. Der Selbstlerner aus ganz kleinen Verhältnissen spielt den angewiderten Weltkenner.“[41]
Von einem eigenständigen Ich kann in den Texten, zumal den ganz frühen Satiren, tatsächlich nicht die Rede sein. Trotzdem aber, und das ist das Entscheidende, arbeitet er als Selbstlerner intensiv an der Erhellung seines Bewußtseins in Form literarischer Texte, in denen er sein Ich gewaltsam abbildet, wie Kommerell feststellt. In Das Lob der Dumheit, geschrieben November 1781 bis März 1782, lotet er immerhin das spätere Personal seiner Romane, vom polierten Höfling über die dürre Gestalt eines Poeten bis hin zum Theologen, ein wenig aus, ohne es bereits mit Leben füllen zu können. In dem Versuch, eben dies zu bewerkstelligen, schlüpft der Autor selbst in die Rolle der Dummheit. Er beginnt die Vorrede mit »Ich, die Dumheit, neme bald diese bald iene erwürdige Gestalt an«,[42] und so macht er bereits einleitend deutlich, daß er dem in den ersten Studienmonaten erworbenen ›fremden‹ Wissen nicht trauen will, ja nicht trauen darf, so sehr er auch zunächst am Universitätsbetrieb teilnimmt und kreuz und quer Vorlesungen hört. Seine Rolle kann und soll, da ist er sich sicher, nicht die sein, Wissen zu übernehmen, um sich dann (dennoch) ein- und unterzuordnen, zumal als Theologiestudent, der er de facto ist; sie muß vielmehr die eines Außenseiters sein, aber nicht weil er sie allein durch seine Armut und Herkunft schon innehat, sondern weil er eine Rolle benötigt, die er eigenständig und so positiv wie möglich ausfüllen kann. Daß er damit nichts Geringeres anstrebt als einen möglichst großen, auch finanziellen Erfolg, liegt sowohl in der Natur der (Kunst-)Sache als auch in der schlichten Notwendigkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Max Kommerell sieht hier zu recht »Jean Pauls Weltansprache als Ansprache des Humoristen«. Er folgert:
„Der Humorist erfährt den Gegenstand von vorn an nur so, daß er dessen Abweichen von der Denkform wahrnimmt und es mit dem Nein des Ich beantwortet, mit dem Nein des Ich den verschobenen Umriß des Gegenstandes zieht. Mit dieser hohen Freiheit des messenden Ich steht er dem Musiker und der idealistischen Unterart des Philosophen nahe, also zwei neuzeitlichen Grenzformen des Geistes, und bezahlt dies mit einer Krankheit: niemals mehr ein Ding unmittelbar erfassen zu können. Er glaubt die Welt zu verbannen und lebt in Wahrheit aus ihr verstoßen selbst im Exil.“[43]
Die »Krankheit« des Jean Paul, die Kommerell hier diagnostiziert, ähnelt sicher jener der Muschel, in deren Innern sich aufgrund eines eingedrungenen Fremdkörpers die Perle bildet. Im Falle Jean Pauls findet sich, um im Bild zu bleiben, das eigene Ich als ein entdeckter »Fremdkörper«, der mit Sprache faßbar wird und nach und nach (eine schöne) Gestalt annimmt. Das sprachliche Umfassen des Ich zeigt sich auch in dem Umstand, daß es Jean Paul nie aufgegeben hat, sich selbst immer wieder in seine Texte einzuschreiben, man denke nur an Schmelzles Reise nach Flätz (1809), wo er nicht nur die Hauptperson mit den ureigensten Schwächen und Sonderbarkeiten seines Schöpfers ausstattet, sondern auch noch selbst als unheimlicher Passagier dem Schmelzle gehörig Angst einjagt. Allein, zu dieser souveränen Schreibpraxis reicht die schöpferische Kraft des jungen Studenten noch nicht, vor allem da seine Welt fast nur aus Sprache besteht und kaum aus Lebenserfahrung gespeist wird. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als aus sich selbst zu schöpfen, was heißen muß, das angelesene Wissen neu zu ordnen und dem imaginierten Publikum zu präsentieren, denn nur so kann er ergründen, ob ein Genie in ihm schlummert.[44] Somit perfektioniert er sich in der Kunst, das Publikum mit Metaphern, Anspielungen, Wortwitzen und den scharfen Geschossen der Altklugheit totzuwerfen, so daß er im Grunde bereits den geplanten Erstdrucken[45] einen Anmerkungsapparat hätte beigefügen müssen, wäre es ihm darum zu tun gewesen, Einblick in seine ›Werkstatt‹ zu geben. Deutlich ist in jedem Fall, daß alles, was der wißbegierige junge Mann in den Jahren bereits aufgenommen hat, wieder hinaus muß, koste es, was es wolle. Zu den bereits erwähnten Übungen im Denken schreibt Max Kommerell:
„Gleich die erste Seelenkunde, die sich Jean Paul mit den früh ausgeschriebenen, hochgeistigen Zügen seiner jugendlichen Hand zusammenstellt, verrät es: sein ganzes Wissen um den Menschen stammt vom Ich, nicht vom Du.“[46]
Die ersten Schritte auf dem Weg zum Schriftsteller hat Jean Paul, mit vielfacher Beeinflussung durch die Wissenschaften, ohne Zweifel in Leipzig getan,[47] und es ist bezeichnend für ihn, daß er sich zwei Jahrzehnte später als bereits allseits bekannter und (immerhin leidlich) erfolgreicher Schriftsteller schließlich doch wieder einem philosophischen Thema zuwendet, nämlich der Ästhetik,[48] hier dann aber vornehmlich die Dichtkunst und ihre Bedingungen untersucht. Besonders der Frage nach der Rolle der Bildungskraft bzw. der Phantasie und der des Charakters wird einige Bedeutung zugemessen. Dabei steht immer die Frage im Raum, ob das einzelne Ich so selbständig agieren kann, daß es weder seine Lebendigkeit noch seine Eigenständigkeit verliert. In der Vorschule der Ästhetik führt Jean Paul zunächst die »Bildungkraft oder Phantasie« ins Feld, die er manchen Zeitgenossen abspricht, mit der aber eine tatsächlich ganze Welt zu erschaffen ist.[49] In Abgrenzung zur »Einbildungkraft« (§ 6) erkennt er in der Phantasie gar die »Welt-Seele der Seele« und den »Elementargeist der übrigen Kräfte«,[50] so daß dem Dichter im Grunde, beherzigt er nur die im selben Text zuvor angesprochenen quasi handwerklichen Grundlagen der literarischen Charakterbildung und Charakterdarstellung, keine Grenzen gesetzt sind. Jean Paul schreibt:
„Die Phantasie macht alle Teile zu Ganzen – statt daß die übrigen Kräfte und die Erfahrung aus dem Naturbuche nur Blätter reißen – und alle Weltteile zu Welten, sie totalisieret alles, auch das unendliche All; daher tritt in ihr Reich der poetische Optimismus, die Schönheit der Gestalten, die es bewohnen, und die Freiheit, womit in ihrem Äther die Wesen wie Sonnen gehen. Sie führt gleichsam das Absolute und das Unendliche der Vernunft näher und anschaulicher vor den sterblichen Menschen. Daher braucht sie so viel Zukunft und so viel Vergangenheit, ihre beiden Schöpfung-Ewigkeiten, weil keine andere Zeit unendlich oder zu einem Ganzen werden kann; (…).“[51]
Hier scheint der Geist Ernst Platners, seine Ästhetik, im älter und reifer gewordenen Jean Paul gleichsam zur Ruhe gekommen zu sein, denn er schließt die nur kleinen »Wahrheiten«, insofern aus, als daß er ihnen keine isolierte Bedeutung mehr zuspricht. Das Menschen-Ich kann zwar den Umständen gemäß auf einen Punkt fokussiert sein, es verliert aber nicht die Zusammenhänge seines Daseins, auch wenn sie ihm zeitweise aus dem Blick geraten und es sein Ich für einen Momemt vergißt. Und gerade weil hier nicht zuerst das in der Literatur beschriebene Ich und dessen Erschaffung gemeint ist, sondern der Mensch als solcher, ist auch der das poetische Ich antizipierende Leser mitgemeint. So treffen die in den Texten beschriebenen Charaktere auf den ›sterblichen Menschen‹ und führen etwas vor (nicht auf!), das dieser gleichberechtigt und mit aller Empathie mitträgt. Jean Paul läßt durchaus keinen Zweifel daran, daß er der Phantasie im allgemeinen und der poetisch-literarischen Phantasie im besonderen eine positiv weltverändernde Wirkung zuweist, die aber auf der Gleichberechtigung aller möglichen Charaktere beruht, seien sie real oder literarisch in der Welt. Einer überaus optimistischen Annahme bezüglich der Art und »Qualität« des Lesers, der im Falle Jean Pauls im wesentlichen ein Jean-Paul-Leser sein müßte,[52] kann ein Autor allerdings nur entsprechend gerecht werden, wenn seine Charaktere tatsächlich eine Eigenständigkeit und mithin eine Ästhetik und Freiheit aufweisen, die die Phantasie nicht nur zuläßt, sondern auch beim Leser wirksam einfordert. Folgerichtig gibt Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik Einblick in seine Werkstatt, in der er kraft seiner Phantasie als Charakterbildner tätig ist und in der das Ich als ein poetisches zum Leben erweckt wird. »Nichts«, so stellt er aber bereits einleitend fest, »ist in der Dichtkunst seltner und schwerer als wahre Charaktere«,[53] doch natürlich steht Jean Paul mit dieser Einsicht nicht allein. So schreibt Novalis[54] zur etwa gleichen Zeit:
„Ächte, poëtische Charactere sind schwierig genug zu erfinden und auszuführen. Es sind gleichsam verschiedne Stimmen und Instrumente. Sie müssen allgemein, und doch eigenthümlich, bestimmt und doch frey, klar und doch geheimnißvoll seyn. In der wircklichen Welt giebt es äußerst selten Charactere. […] Die meisten Menschen sind noch nicht einmal Charaktere. Viele haben gar nicht die Anlage dazu. Man muß wohl die Gewohnheitsmenschen, die Alltäglichen von den Ch(aracteren) unterscheiden. Der Character ist durchaus selbstthätig.“[55]
So unterschiedlich die Prosawerke der beiden Dichter auch sind, die Erforschung der (eigenen) Gedankenwelt, das Selberdenken ist ihnen nicht einfach Mittel zum Zweck der Literaturerschaffung, sondern Teil derselben, so daß im besten Falle poetische Ichs entstehen, die dem Leser als gleichberechtigte, lebendige Gegenüber erscheinen und die Gedanken und Emotionen gleich realen Menschen auszulösen vermögen.
Die nichtsatirischen, von poetischen Ichs bevölkerten Werke Jean Pauls wären vielleicht nie geschrieben worden, hätte ihn das Leben weniger hart getroffen. Die weitgehende Erfolglosigkeit als Schriftsteller, die bittere Armut, die beengten Lebensverhältnisse, all dies bedrückte ihn. Ein Leben als Hauslehrer in Töpen oder als Winkelschullehrer in Schwarzenbach war sicher nicht das, was er sich vorgestellt hat, und als er seine ›Todesvision‹ am 15. November 1790 erleidet, steht dies am Ende einer Zeit, in der er drei Menschen an den Tod verloren hat: die Freunde Lorenz Adam von Oerthel und Johann Bernhard Hermann, dazu den Bruder Heinrich durch Selbstmord. Aber natürlich ist der Übergang von der Satire zum Roman und damit zum poetischen Ich kein plötzlicher, auch wenn er bereits in der Zeit in Töpen mit dem Gedanken spielt, einen Roman zu verfassen. Dies zeigt ein Brief an Johann Bernhard Hermann vom Mai 1788. Dort heißt es:
„Ich bin des Teufels, wenn ich nicht einmal deinen ganzen Karakter in einen Roman pflanze: aber bringe mir bei, wie ich dem Leser die Wahrscheinlichkeit deiner Zotenmanie beibringe? Es wird ieder sagen, ich soutenirte den Karakter zu schlecht und zwänge die un(gleich)artigsten Züge zusammen.“[56]
Der Anreiz, seinen Freund als literarischen Charakter zu verwenden, muß in der Tat recht groß gewesen sein; der Begriff der Zotenmanie spielt dabei auf medizinisch-erotische Berichte an, die Johann seinem Freund brieflich übermittelt.[57] Ein Wink aus der Realität des Buchhandels hat aber wahrscheinlich eher dafür gesorgt, den Plan tatsächlich umzusetzen. Im Juli 1790 spricht Jean Paul in einem Brief an Christian Otto schließlich von einem Roman, »an dem ich laiche«.[58] Dem vorausgegangen war der Versuch, unter Vermittlung des Publizisten Johann Wilhelm von Archenholz[59] eine Satirensammlung, Abrakadabra oder Die Baierische Kreuzerkomödie am längsten Tage im Jahr, an einen Verleger zu vermitteln. Über das Scheitern dieses Versuchs berichtet Archenholz in einem Brief an Jean Paul vom 13. Februar 1790. Dort heißt es:
„Buchhändler haben es [das Manuskript der Kreuzerkomödie] gelesen, es als PRODUCT des Witzes gelobt, als Waare aber von sich gewiesen, da, wie sie sagen, uneingekleidete Satyren gantz u. garnicht verkaufbar sind.“[60]
Doch Archenholz hat, neben der schlechten Nachricht, auch noch einen Rat an den jungen Schriftsteller:
„Wäre dieser Aufwand von Witz u. Laune in ROMANform gebracht, so bin ich gewiß die Buchhändler würden sich danach reissen. Warum in aller Welt thun Sie das nicht mit Ihren PRODUCTEN? Die Kunst Handlung zu fingiren kan doch einem Manne nicht schwer werden, der die ungleich grössere Kunst versteht, witzig und launicht zu seyn.“[61]
Wenn sich Archenholz auch sicher täuscht in der Beurteilung der Schwierigkeitsgrade von Roman und Satire, so muß dieser Brief doch einigen Eindruck auf Jean Paul gemacht haben, auch wenn er zunächst weiter Satiren schreibt.[62] Immerhin macht er sich recht schnell an die »Idylle« Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal, die 1793 als Teil von Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung, seinem ersten Roman, veröffentlicht wird. Damit war ein Romanschriftsteller geboren, wie ihn, das kann man ohne Übertreibung sagen, die Welt noch nicht gesehen hat. Seine poetischen Ichs, Jean Paul als Jean Paul eingeschlossen, bevölkern und bewegen noch heute die Welt derjenigen Leser und Leserinnen, die sich einlassen auf einen gewissen Johann Paul Friedrich Richter, dem es eines Tages eingefallen sein muß, unbedingt Schriftsteller werden zu müssen.
[1] Erich Kleinschmidt, Autorschaft, Konzepte einer Theorie. Tübingen und Basel 1998, S.77
[2] Günter de Bruyn, Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Halle (Saale) vierte Auflage1975, S.58. Die Formulierung de Bruyns läßt den Eindruck entstehen, als sei Platner in seiner Lehre ungeordnet vorgegangen. Dies jedoch ist nicht der Fall, denn wenn er auch seine Philosophie in zumeist recht kurzen Paragraphen zum besten gab, so ist diese doch folgerichtig aufgebaut, ohne dabei jedoch eine strenge Systematik zu befolgen oder Erkenntnisse a priori vorauszusetzen. Daß er seine Untersuchungen allerdings immer wieder aufs Neue überarbeitete, ist nach Max Dessoir darauf zurückzuführen, daß Platners philosophische Richtung als ein Skeptizismus bezeichnet werden muß, der bis 1781 an Leibniz und von da an an Kant anknüpfte. Diese Wandlung zeige sich am deutlichsten, so Dessoir in einer Fußnote, an den Philosophischen Aphorismen. Siehe dazu: Max Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie. Berlin 1902, S.224.
[3] de Bruyn (Anm.2), S.59.
[4] de Bruyn, S.61.
[5] Überliefert sind diese Vorlesungen durch Mori(t)z Erdmann Engel in einer Veröffentlichung von 1836, wiedergegeben in »treuer Auffassung nach Geist und Wort«. Es handelt sich also nicht um eine von Platner selbst veröffentlichte oder vom ihm autorisierte Schrift. Günter de Bruyn schreibt: »Seine berühmten Ästhetik-Vorlesungen (…) beeindrucken auch Richter sehr.« de Bruyn, S.58f.
[6] Ernst Platner, Vorlesungen über Ästhetik. In treuer Auffassung nach Geist und Wort wiedergegeben von dessen dankbarem Schüler M. Moriz Erdmann Engel, (…). Zittau und Leipzig 1836, S.82f. Hervorhebung im Original.
[7] Jean Paul, Übungen im Denken. In: Ders., Sämtliche Werke. Abteilung II. Erster Band. München, Wien 1974, S.36. Hervorhebung im Original.
[8] Jean Paul (Anm.7), S.78. (XXIII.)
[9] Engelhard Weigl stellt fest: »Jean Pauls Vorstellung von wahrer Philosophie trifft sich mit einer zentralen gemeinsamen Überzeugung der deutschen Aufklärung.« Engelhard Weigl, Aufklärung und Skeptizismus. Untersuchungen zu Jean Pauls Frühwerk. Hildesheim 1980, S.124.
[10] Weigl (Anm.9), S.123.
[11] Jean Paul (Anm.7), S.79f.
[12] Jean Paul, Tagebuch meiner Arbeiten. In: Ders., Sämtliche Werke. Abteilung II. Erster Band. München, Wien 1974, S.225.
[13] Das Verzeichnis der von Jean Paul exzerpierten Bücher 1778-1781 zeigt mit der hier aufgelisteten Textvielfalt den Wissensdurst des Jünglings. Siehe dazu: Engelhard Weigl, S.207ff. (Anhang)
[14] Weigl, S.124.
[15] Ebd. Hervorhebung im Original.
[16] Jean Paul, Übungen im Denken. S.81f. (XXVIII.) Hervorhebungen im Original. Diese Einschätzung Jean Pauls kommt der einleitend genannten Überlegung Erich Kleinschmidts recht nahe.
[17] Das Geldverdienen mit Bücherschreiben war allerdings, auch für Goethe, nicht leicht, da vor allem mit Raubdrucken oder verdeckten Zweitauflagen oft genug die durchaus vorhandene Nachfrage befriedigt wurde. Heutigentags sind die Probleme andere, das Ergebnis ist das selbe.
[18] Platner, S.83f.
[19] Ernst Platner sieht die Aufgabe des Lehrens ganz pragmatisch. In seinen Vorlesungen über Ästhetik ist zu lesen: »Denn einem Genie geben oder Geist in seinen Kopf bringen, heißt nur: den Geist, den Gott in den Menschen gelegt hat, durch gewisse Künste und Mittel erwecken und in Tätigkeit setzen.« Platner, S.83.
[20] Platner, S.74. Hervorhebung im Original.
[21] Platner, S.77f. Hervorhebungen im Original.
[22] Platner, S.78.
[23] Der Ansicht Platons, nur diejenigen Dichter seien wahre Dichter, die von der Gottheit selbst belebt werden, stimmt Platner ausdrücklich nicht zu. Siehe dazu: Platner, S.91f.
[24] Platner, S.82f. Hervorhebungen im Original.
[25] Platner, S.82.
[26] Platner, S.86.
[27] Platner formuliert: »Ein anderer Vorzug des Genies ist, daß die Talente im Grunde von ihm allein abhängig sind. Es ist ein psychologischer Grundsatz aus der Lehre von der Bildung der Vorstellungen, daß zur Hervorbringung einer jeden Vorstellung eine Bewegung im Organe des Gehirns erfordert werde.« Platner, S.87.
[28] Ebd.
[29] Platner, S.88.
[30] Platner, S.91.
[31] Platner, S.90. Hervorhebung im Original. Der Wunsch Platners, seine Ästhetik möge bereits im Vortrag unmittelbare Wirksamkeit entfalten und die Hörer zu künstlerischen und philosophischen Taten anregen, zeigt sich vielleicht schon allein darin, daß er sie nicht hat drucken lassen. Seine Gedanken zur Ästhetik waren ihm bereits Tat, und die Rede die beste Möglichkeit, sie unvermittelt zur Diskussion zu stellen.
[32] Platner, S.91.
[33] Siehe dazu: Jean Paul, Vorschule der Ästhetik. In: Ders., Sämtliche Werke. Abteilung I. Fünfter Band. 6., korrigierte Auflage. München, Wien 1995, S.31. § 2.
[34] Platner, S.92.
[35] Platner, S.95.
[36] Platner sondert die Erfindungskraft von der »Erfindsamkeit« ab, die er zwar als natürliche Folge des wahren Genies zu sehen bereit ist, nicht aber als sein ganzes Wesen beherrschend. Platner, S.93.
[37] Platner,S.95ff.
[38] Platner, S.96.
[39] Platner S.97.
[40] Siehe dazu: de Bruyn, S.60. Und: Weigl, S.207ff.
[41] Max Kommerell, Jean Paul. Frankfurt am Main 3. Auflage1957, S.17.
[42] Jean Paul, Das Lob der Dumheit. In: Ders., Sämtliche Werke. Abteilung II. Erster Band München, Wien 1974, S.308.
[43] Kommerell (Anm. 41), S.16f.
[44] Dieser jugendliche Einstieg in die Schriftstellerei erinnert den heutigen Leser an die ersten literarischen »Gehversuche« Samuel Becketts, dessen Erstlingswerk More Pricks than Kicks (1934; deutsch unter dem verharmlosenden Titel Mehr Prügel als Flügel) mit Wissens- und Metaphernballast beschwert ist.
[45] Der einzige frühe »Erfolg« ist 1783 die anonym in der Vossischen Buchhandlung in Berlin erschienene Schrift Grönländische Prozesse.
[46] Kommerell, S.15f.
[47] Auch heute tun deutsche Schriftsteller, und natürlich Schriftstellerinnen, ihre ersten Schritte in das Berufsleben häufig in Leipzig, wenn auch, am Deutschen-Literatur-Institut, auf andere Art und Weise.
[48] Ob die Ästhetik überhaupt als ein Teilgebiet der Philosophie angesehen werden kann, ist bis heute umstritten; die umgekehrte Frage ist natürlich, vielleicht mit größerer Berechtigung, ebenso zulässig.
[49] Jean Paul geht hier auf die den Dichter auszeichnenden Fähigkeiten ein, bevor er später noch einmal, in der Zweiten Abteilung, die Charakterbildung der Figuren ausführlich ins Blickfeld rückt. Anzumerken ist, daß Jean Paul in späten Jahren zu der Überzeugung kommt, das Fugen-S in Doppelwörtern (Komposita) nach Maßgabe eines gewissen Christian Hinrich Wolke eliminieren zu müssen, so wie hier in »Bildungkraft«.
[50] Jean Paul (Anm. 33), Vorschule der Ästhetik, S.47. § 7.
[51] Jean Paul, S.47f. § 7.
[52] Der nicht nur geübte oder gebildete, sondern der Ideal-Leser schwebt sicher vielen Schriftstellern vor, nicht nur Jean Paul, sondern später auch noch Robert Musil, James Joyce oder Arno Schmidt, die alle implizit eine Art Gefolgschaft verlangen, die eben nicht bedingungslos, dafür aber absolut zu sein hat.
[53] Jean Paul, S.207. § 56.
[54] Zu Novalis siehe auch: Norbert W. Schlinkert, Wanderer in Absurdistan, Novalis, Nietzsche, Beckett, Bernhard und der ganze Rest, Eine Untersuchung zur Erscheinung des Absurden in Prosa. Kapitel 3.1. Das Ich als Grenzgänger, als Ganzes. Novalis, Techniker und Träumer. Würzburg 2005, S.23 bis 36.
[55] Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Band 2. Fragmente und Studien 1799/1800. Darmstadt 1999, S.842f. Nr.[445.]. Hervorhebung im Original.
[56] Jean Paul, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Eduard Berend. Dritte Abteilung. Erster Band. Briefe 1780-1793. Berlin 1956, S.241. (Brief Nr. 220, vom 20. Mai 1788; als Kopie überliefert)
[57] Johann Bernhard Hermann erinnert dabei entschieden an Oliver St. John Gogarty, der als junger, zotiger Medizinstudent unter dem Namen Buck Mulligan in James Joyce‘ Roman Ulysses sein Unwesen treibt.
[58] Jean Paul (Anm. 55), S.299. (Brief Nr. 329, vom 15. Juli 1790)
[59] auch: Archenholtz.
[60] Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Monika Meier. Vierte Abteilung. Band 1. Briefe an Jean Paul 1783-1793. Berlin 2003, S.193. Hervorhebung im Original. (Brief Nr. 105, vom 13. Februar 1790)
[61] Jean Paul (Anm. 60), S.194. Hervorhebungen im Original.
[62] Siehe dazu: de Bruyn, S.69.
*
Ins Blaue hinein
Ich bin ungehalten – also das Gegenteil von Gehalten, so wie man zum Beispiel gehalten sein kann, zu schweigen. Hach, was ist die deutsche Sprache doch schön, es ist eine der schönsten Sprachen der Welt, da beißt die Maus kein‘ Faden ab, sowohl klanglich als auch ihre Ausdrucksmöglichkeiten betreffend. Natürlich gibt es noch andere schöne Sprachen, aber da kann ich mangels Verstehenkönnens nur den Klang schön finden, wie zum Beispiel bei den klanglich eng verwandten Sprachen Finnisch und Japanisch, was sich vor allem in Liedern zeigt. Auch das Polnische kann sehr schön sein … ja, sicher, der Einwand versteht sich ja von selbst, das hängt natürlich immer auch sehr vom Sprecher bzw. von der Sprecherin und der Situation ab: gebrüllt ist keine Sprache schön. Ist eh alles subjektiv, klar! Aber darauf wollte ich eigentlich gar nicht hinaus, imgrunde wollte ich Sie, liebe Leser:innen, nur mal so gehörig zutexten und eine Menge kleiner Gehässigkeiten loswerden, denn befinden wir uns nicht alle gleichsam auf der Agora der Neuzeit, nur daß es nicht wie zu Sokrates‘ Zeiten allein mündlich hin- und hergeht, sondern eben schriftlich, es aber die Möglichkeit gibt, zu antworten, etwa so, als befände man sich vis a vis im Gespräch. Also texten Sie ruhig zurück. Schweigen können Sie natürlich auch.
Ja, wie gesagt, ich bin ungehalten! Außerdem bin ich müde, in Sorge, in Zweifeln befangen, aber eben auch voller Pläne für die sogenannte Zukunft, denn nichts bleibt, wie es ist, ergo es gilt, sich nicht treiben zu lassen, sondern Menschen zu finden und dazu zu bewegen, mitzutun und, so die Idee, in ein paar Jahren etwas Gemeinschaftliches aufzubauen, ganz ohne esoterischen Quark und Anhimmelung von Vermeintlichkeiten natürlich, jaja, darauf muß ich bestehen, denn Denkfaulheit und ergebnisorientierte Naivität ist mir ein Greuel. Genaues verraten tue ich hier natürlich nicht, außer, daß es sich bei den zu Bewegenden um solche handelt, die schon von sich aus bewegt sind, zu teilen vermögen, ihre Haustiere und ihre Arbeit nicht wichtiger nehmen als ihre Freunde und eben Geld nicht um des Geldverdienens verdienen, sondern um selbständig leben zu können. Keine Sorge, die Leute, die mich nun mal wieder des Zynismus‘ zeihen wollen oder sich jetzt angesprochen fühlen und beleidigt sein könnten, lesen das hier gar nicht, das ist die Gnade des Nichtlesenwollens der Nachrichten aus den Prenzlauer Bergen, doch auch bei diesen gebe ich die Hoffnung nicht auf, daß sie der Vereinzelung zu Lasten des Einzelnen entgegenzutreten und selbständig zu denken bereit sind, denn nur so kann grundlegendes Vertrauen aufgebaut werden. Tja. Aber bevor ich hier noch ein weiteres Faß aufmache und vor lauter Schwafeln noch hineinfalle, stürze ich mich doch lieber in meine Arbeit, die eben der Verwirklichung von Ideen dient – da staunen Sie, was!? Dazu passend habe ich letztens den blauen Himmel über den Prenzlauer Bergen fotografiert, so Richtung Unendlichkeit – hier ist er:
Gevatter Tod lernt zählen, Brüssel sei Dank!
Wenn der Tod bei Helmut Schmidt vorbeikommt, wird er feststellen müssen, daß erst stangenweise die von Brüssel verbotenen und im schmidtschen Keller verbunkerten Mentholzigaretten weggeraucht sein müssen, bevor er zum Zuge kommt. [Man scheint Optimismus neuerdings kaufen zu können – wenn das keine gute Nachricht ist!] Andere Sozen horten, für spezielle französische Lampen, wie zu hören ist, unzulässige Glühbirnen, die die von Brüssel gesetzten Grenzwerte bösartig übersteigen, aber für angenehm ästhetisches Licht sorgen, was ja nicht ganz unwichtig ist. Überhaupt ist das Horten in Deutschland wieder in Mode gekommen, es ist sozusagen das Einwecken der Welt von gestern für den Genuß von morgen. So sehen wir neuerdings Meister Tod mühsam am Rechner rumwurschteln, denn wie lange die Zigaretten des Alt-Bundeskanzlers noch reichen, ist zwar leicht auszurechnen, bei zwei Schachteln am Tag dürften das … – das kriegt er noch hin, aber wie lange die angehäuften Glühbirnen pro Person und Lampe halten werden, ist da schon schwieriger zu berechnen und übersteigt schnell das Denk- und Kombinationsvermögen von Gevatter Tod und auch aller Computerprogramme.
Andere Menschen, etwa Schriftsteller, horten sogar Farbbänder für nicht einmal verbotene Schreibmaschinen, von denen sie mindestens ein halbes Dutzend besitzen – wie soll da Gevattern zum genau richtigen Zeitpunkt auf der Matte stehen? Einfach früher zu kommen, wenn er selbst es für richtig hält, ohne sich also um solchen Kram zu kümmern, hat sich der Sensenmann zwar schon oft vorgenommen, doch meist war’s vergeblich, denn gegen Leidenschaft ist schlecht anzukommen. In grausiger Erinnerung ist ihm noch das jahrelange Abpassen eines gewissen Sören Kierkegaard, in ständiger Wiederholung klopfte er an dessen Tür, doch was macht der Kerl? – er lebt genau so lange, wie sein ererbtes Vermögen reicht und gibt erst dann den Löffel ab, noch ganz ohne Brüssel allerdings. Was also tun, denkt der Teufel und kauft erstmal ein paar Kisten Hörner und Dreizacke, denn wer weiß, überlegt er, was denen da in Brüssel noch alles so einfällt.
Geht wählen, Leute, so oft ihr könnt!
Am 22. September ist es soweit, die Kanzlerinnenwahl steht an, auch Bundestagswahl genannt. Geschickterweise ist direkt davor Sommer, da macht so gut wie alles Pause und Urlaub und Ferien, so daß immer jemand fehlt zum Diskutieren und Wahlkampfmachen. Tja, Pech, könnte man denken, doch jetzt, wo alle, also nicht nur die doofen Intellektuellen, wissen, daß es sich bei der Bundesrepublik Deutschland ohnehin nicht um einen souveränen Staat handelt, können wir alle zusammen diese Wahlangelegenheit locker sehen. Vorgestern habe ich mit einem Freund zusammen eine Motorradtour durch die Uckermark gemacht und dadurch endlich begriffen, warum die Angela Merkel so ist, wie sie „regiert“ und so „regiert“, wie sie ist. Die, das sage ich mal voraus, wird nicht aufhören, Bundeskanzlerin zu sein, bis sie unser Land, das ja zudem auch noch ein – unsouveräner – Staat ist, ruiniert haben wird. Dabei ist die Uckermark eine wirklich schöne Landschaft!
Was schließen wir daraus? Einige schließen daraus, wie der Diez vom Spiegel, nicht wählen gehen zu sollen, zu dürfen, zu müssen, andere wiederum, es in jedem Fall zu tun, auch etwa indem der Wahlzettel ungültig abgegeben wird. Natürlich ist sowohl das eine wie das andere Vorgehen alternativlos, so daß ich persönlich durchaus überlege, meine Stimme zur Bundestagswahl 2013 gegen eine kleine Gebühr, die mir für eine Weile den Lebensunterhalt sichert, zu verpachten – so wäre allen geholfen, eine Win-Win-Win-(…)-Situation! Wer also nicht nur ein Mal seine Stimme abgeben will, sondern seinem persönlichen Standpunkt deutlicheres Gewicht verleihen möchte, darf sich, im Sinne unserer aller Demokratie, in der keine Stimme verschenkt werden darf, vertrauensvoll an mich wenden. Das höchste Angebot wird, da es sich quasi um eine Ausschreibung handelt, den Zuschlag bekommen! The winner is …, nein, nein, der wird dann natürlich nicht verraten werden, denn es handelt sich ja, nicht zu vergessen, um eine geheime Wahl!
Dinge spielen sich ab, Kitsch ist coming*!
Selbsthaß, Minderwertigkeitskomplexe und Schüchternheit sind die Hauptursachen für Gier, Geiz und jede Form der Sucht. So weit, so bekannt. Weniger bekannt ist, daß Einsamkeit und Unverstandensein zu Kunst oder Kitsch führt – oder wohlgemerkt. Was Kunst ist, dürfte unter verständigen Menschen allgemein bekannt sein, doch was ist Kitsch!? Ich will es Ihnen sagen, Kitsch ist alles, was ohne Umweg über Reflexion Emotionen auslöst, die eine positive Anmutungsqualität besitzen. Keine Irritation, keine Brüche, keine bewußt hergeleiteten Erinnerungen, alles springt in einem Menschen, sobald die Sinne den Kitsch erfaßt haben, unmittelbar an und ist sofort quasi am schunkeln, am seufzen, am jauchzen – ergo am wohlfühlen dran. Só, das ist jetzt die unmittelbare und einzig wahre Erklärung! Ich weiß, daß sich Generationen um eine stimmige Definition von Kitsch bemüht haben und scheiterten, so es also einer Demütigung gleichkommt, meine Definition um die Ohren gehauen zu bekommen – doch trösten Sie sich, Sie können es ja mal mit der Definition von Gier oder Geiz versuchen, so als Fingerübung gewissermaßen.
*Bevor Sie fragen: „coming“ ist die englische und mir für eine Überschrift passender erscheinende Form für „ist am kommen dran“ (westfälisch-rheinische Verlaufsform)
Eine andere, aber noch viel wichtigere Frage als nach dem Kitsch ist aber die, wie grausam Kinder sein können, und da meine ich nicht die laute und fröhliche Seite, die es dem Geistesmenschen bisweilen unmöglich macht zu arbeiten – da kann man die Ausfallzeit doch einfach mit einem Schlückchen alkoholischem Kaltgetränk überbrücken, liebe Brüder und Schwestern, stellt Euch doch nicht so an! – nein, ich meine die dunkle Seite der Kinderseele, noch unberührt von einem jeden Gedanken an Mitgefühl und jeder Vorstellung von Empathie! Schauen Sie mal, was ich vor kurzem entdeckte und für Sie dokumentiert habe – da graust es einem doch vor dem, was in den kleinen Wesen so vorgeht, oder eben nicht vorgeht, nicht wahr? Denn wäre ein Erwachsener zu der Grausamkeit fähig, seine Puppe über Nacht den Gefahren der Natur zu überlassen? (Sehen Sie links das Satyrgesicht im Sand? Na, was habe ich gesagt!)
Zettelei
Gestern kam ich auf die glorreiche Idee, meine Bücherwand neu zu ordnen und nach Möglichkeit überflüssigen Ballast loszuwerden. Zehn, fünfzehn Bücher kommen da immer zusammen, so auch gestern, die ich dann Oxfam spende oder in den Hofdurchgang stelle. Komischerweise wirkt plötzlich die ganze Wohnung viel strukturierter, obwohl ich sonst nichts verändert habe. Die ganze Angelegenheit hat jedenfalls insgesamt so etwa sieben Stunden gedauert, wovon sicher eine draufging für das Klebezettelrausklauben bzw. das Klebezettel-vorne-ins-Buch-Kleben, wenn sie denn, die Zettel, beschriftet und mit Seitenzahl versehen waren. Nur in einem Buch ließ ich die Zettel drin, nämlich in diesem hier abgebildeten:
Das liegt daran, daß ich Nietzsche und der Circulus vitiosus deus einmal vor etwa zehn oder elf oder zwölf Jahren, was weiß denn ich, während der sommerlichen Semesterferien durcharbeitete, mit der nicht unerheblichen Folge, von Klossowski, mehr als von jedem anderen, die Freiheit des (wissenschaftlichen) Denkens und Schreibens gelernt zu haben, einfach durch’s Lesen! – also bleiben die Zettel drin! Eigentlich habe ich sogar erst damals mit dieser Zettelei begonnen, denn ich wollte in ein so schönes und sauteures Buch einfach nicht hineinkritzeln, während ich seitdem in dutzende von Büchern nicht nur registerartige Einträge in rot hineingeschrieben habe, das mache ich seit Jahrzehnten, sondern sie nun meist auch noch mit beschriebenen Zetteln befrachte – diese mußten, wie gesagt, also raus aus fast allen Büchern, die fressen nämlich Papier, um vorne und nötigenfalls auch hinten ins Buch eingeklebt zu werden. Beim Wiederbearbeiten oder einfach beim Wiederlesen geht nichts über diese Art von Register! Ein Buch ist eben wie eine Hobelbank, denn die will auch aufgeräumt sein. Am Ende war ich dann zufrieden mit meiner Arbeit, trank ein Bier und machte noch ein Gruppenfoto mit dem Klossowski-Buch, aber, da ich nunmal sehr bescheiden bin, ohne mich: