Mißtrauensvotum?

Seit einer ganzen Weile lese ich eher Romane, die ich schon einmal gelesen habe, teils vor bereits 25 Jahren. Sobald ich die Zeit finde, werde ich nun auch und also zum zweiten Mal Ein Porträt des Künstlers als junger Mann von James Joyce lesen, und zwar in der neuen Übersetzung von Friedhelm Rathjen. Darauf freue ich mich schon sehr! Natürlich kann ich dann nichts „Aktuelles“ lesen. Die letzten Neuerscheinungen, die ich las, waren Die komische Frau von Ricarda Junge, Warten auf Ahab von Leander Sukov und Imperium von Christian Kracht, wobei mir die Romane Junges und Sukovs  ziemlich gut gefallen haben, während ich dem Krachtschen Werk nicht eben viel abgewinnen konnte, was ich ja hier und da auch zum Ausdruck brachte. Sollte ich mehr „frische“ Literatur lesen? Ist es ignorant von mir, Neuerscheinungen weitgehend zu ignorieren? Ich sage mal – Nein! Seinen Lieblingsroman sollte man sich ohnehin selber schreiben, finde ich, denn da hat man genug zu lesen, immer und immer wieder!

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Wenn Worte töten könnten

Man macht sich keine Freunde, wenn man Romane liest, zu denen nicht alle Ja und Amen sagen können. In bestimmten Kreisen darf man nicht das falsche Auto fahren oder in der falschen Gegend wohnen, das wird einem übel übelgenommen, in anderen Kreisen geht es mehr um Ansichten, die doch gefälligst normal und kompatibel sein sollen. Was bildet der oder die sich ein, der oder die hält sich für was Besseres, wird dann geraunt, oder es wird gefragt „Was erlauben Strunz?“, worauf dann über den Außenseiter gelacht wird, weil es Spaß macht, Menschen zu vernichten. Hat das schon mal jemand gesagt: es macht Spaß, Menschen zu vernichten? Dabei sind doch die Nachrichten voll davon. Es wird über Kriege berichtet und über nun fast schon vergessene Lager für politische Gegner, Feinde und Asylbewerber, aber auch über Menschen, denen selbst in der reichsten Weltgegend nicht mal ein Arbeitsplatz geboten wird, von den menschenunwürdigen Zuständen in manchen Heimen ganz zu schweigen. Aber auch in den Kulturteilen der seriösen Tageszeitungen werden Menschen vernichtet, ein Roman oder ein Film als ganz und gar mißlungen beschrieben, manchmal nur mit einem Satz, Daumen rauf oder runter, die Arbeit von Jahren, zerborsten an einer Klippe, auf die der Künstler nicht einmal zusteuerte, ganz im Gegenteil, die Klippe ist beweglich wie eine Handwaffe und bohrt sich mit Lust in sein Leben und Werk, um beides zu eliminieren. Selbst nicht mehr unter uns weilende Künstler werden mit allergrößter Lust angegangen, werden gewürgt mit der Absicht, alles Leben aus ihnen zu pressen. Peter Handke sagt etwa über den Mann ohne Eigenschaften Robert Musils, das sei ein größenwahnsinniges und unerträglich meinungsverliebtes Werk, es sei lästig, daß ihm diese Bücher die schöne, freie Welt, die ihm als Literatur immer vorgeschwebt habe, versperren. (In: Die Zeit, 3. März 1989) Marcel Reich-Ranicki schreibt wörtlich: „Die Wahrheit ist: Der Mann ohne Eigenschaften war misslungen und Musil ein tatsächlich ganz und gar gescheiterter Mann.“ (In: Der Spiegel, 19. August 2002, „Musils Fiasko“) Ich frage mich natürlich, wo solch ein Haß herkommt, der aus diesen Sätzen spricht, während ich die Liebe zum Werk Robert Musils, die ja auch klar und deutlich und an den selben Orten geäußert wird, persönlich gut nachvollziehen kann, selbst wenn es quasi naturgemäß eine schwierige ist. Aber das muß natürlich jeder für sich selbst herausbekommen. Fest steht aber, jedenfalls was die professionelle Kritik angeht: es wird gerne vernichtet, man hat Freude daran, mutmaßlich auch wegen des monetären Aspektes und der insgesamt mit solch Arbeit einhergehenden Steigerung des Ansehens in der Welt der Kultur, denn natürlich werden freudvolle Vernichter eher geliebt als sachlich argumentierende Kritiker. Aus meiner Sicht wäre es schön, wenn Kunstwerke als Kunstwerke nur noch von denen öffentlich besprochen werden, die die Werke mögen und sie dennoch sachlich kritisieren können. Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt! Oder?

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Im Schatten von Revolution, Krieg und Industrialisierung

Der Zeitraum nach dem Scheitern der 1848er Revolution ist zunächst geprägt von einschneidenden Maßnahmen gegen „revolutionäre Umtriebe”, so daß auch die Zahl der Auswanderer, unter ihnen viele politische Flüchtlinge, wieder zunimmt. Dennoch bestimmen nicht die Fragen nach politischer Mitbestimmung das Leben der meisten Menschen, sondern das, was Friedrich Schiller 1795 in bezug auf die Französische Revolution zu bedenken gab, nämlich die Überbeanspruchung des Einzelnen durch die unmittelbaren Umstände des Daseins. Die Ausweitung der industriellen Produktion veränderte die Lebensbedingungen insgesamt und verschärfte die soziale Lage in den teilweise rasant wachsenden Städten. Hatten zuvor Mißernten, Hungersnöte und Kriege die Menschen bedroht, so wurden sie nun durch die von der Industrialisierung ausgelösten Zwänge und Nöte aus ihren Lebensweisen und Traditionen herausgerissen. Die Landflucht führte zur Herausbildung von Industriestädten in bis dahin unvorstellbaren Dimensionen. Aber nicht nur Bauern und Handwerker waren von dieser Entwicklung betroffen, sondern auch die bürgerliche Mittelschicht, aus der die nun notwendig gewordenen Verwaltungsangestellten rekrutiert wurden. Im staatlichen Verwal­tungsapparat versetzte man das Personal oftmals in weit von der Heimat entfernte Regionen, so daß immer häufiger unterschiedlichste Mentalitäten aufeinander­trafen. Insgesamt entstand so das vorherrschende Gefühl der Unsicherheit, nicht nur bezüglich der materiellen Existenz, sondern auch in Fragen der Ethik und der Sinngebung des so geführten Lebens überhaupt. Alte, auch konfessionelle Gewißheiten standen nun im Konflikt mit ebenso tradierten Überzeugungen, so daß die Lebensweise den neuen Bedingungen angepaßt werden mußte. Gänzlich neue Lebensmodelle entwickelten sich zudem nicht zuletzt aus der sich immer deutlicher herausbildenden Schicht der Proletarier, die auch insgesamt, nomen est omen, ihren Anteil zur Bevölkerungsentwicklung beitrug.

So sah sich der Einzelne, selbst wenn er bessergestellten Kreisen angehörte, einem harten Konkurrenzkampf in allen Bereichen ausgesetzt. Die Industriellen wußten diese Situation auszunutzen, indem sie, solange sie kein Gesetz oder eine Vereinbarung daran hinderte, die Löhne so weit wie möglich drückten, besonders auch für Frauen und die ebenfalls arbeitenden Kinder. Die Klugheitsmoral, die ein Jahrhundert zuvor im Zeitalter der Empfindsamkeit in Frage gestellt worden war, zumindest was die eindeutig negativen Aspekte betrifft, feierte so zunächst fröhliche Urstände auf dem Rücken des Industrieproletariats und der Angestellten, auch wenn es bald schon zur Herausbildung zahlreicher Einrichtungen kam, die die unmittelbare Not, etwa durch Armenspeisung, zu lindern imstande waren.

Diese Umstände sind mit dem Schlagwort der Industriellen Revolution nur unzureichend angedeutet, vor allem, da auch der Krieg weiterhin wie selbstverständlich die Fortsetzung der Politik bzw. der Diplomatie mit anderen Mitteln blieb. Der neue Mensch des Industriezeitalters war flexibel einsetzbar, zunächst jedoch weitgehend rechtlos, selbst wenn die meisten Landesverfassungen, als einziges positives Ergebnis der Revolution von 1848, ein liberales Grundmuster erkennen ließen. Die politische Einflußnahme des Volkes beschränkte sich jedoch mehr oder weniger auf die zweiten Kammern der Landtage, in denen die Angehörigen des Bildungsbürgertums ihre Pflicht als Abgeordnete erfüllten, indem sie die Entscheidungsträger an der Spitze der Monarchie schalten und walten ließen. Erst in den 1860er Jahre entwickelten sich tragfähige politische Parteien mit festem Parteiprogramm, 1861 die (liberale) Deutsche Fortschrittspartei, 1863 zunächst der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, aus dem dann 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei entstand.

Die Deutsche Fortschrittspartei errang im Jahr 1862 die Mehrheit der Sitze im Preußischen Landtag; hier wurde erstmals deutlich, wie stark der Einfluß „von unten” sein kann. Als der sich bald anbahnende Verfassungskonflikt, der sich an der Frage der vom preußischen König Wilhelm I und seinem Militärkabinett geforderten Heeresreform und der Ablehnung derselben durch die liberale Mehrheit im Abgeordnetenhaus entzündete, nicht durch einen Kompromiß zu lösen war, berief Wilhelm I den Rechtskonservativen Otto von Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten, gleichsam als den Mann fürs Grobe, der sich allerdings auch feinsinniger diplomatischer Mittel zu bedienen wußte, wenn er dies für notwendig erachtete. Bismarck war bereit, notfalls auch ohne das Parlament zu regieren, und als es ihm schließlich durch geschickte Diplomatie und gezielten und technisch hochmodernen Militäreinsatz gelang (Dänischer Krieg 1864, Deutscher Krieg 1866), Preußen die Vorherrschaft im Norddeutschen Bund zu sichern und Österreich als Führungsmacht eines zukünftigen Deutschland auszuschalten, zog er eine große Anzahl von Abgeordneten der Liberalen und Konservativen auf seine Seite. Im Krieg gegen Frankreich (1870/71), in dem auch die süddeutschen Armeen unter dem preußischen Oberbefehl kämpften, baute er allerdings zurecht auf ein die politischen Gegner verbindendes Nationalgefühl und den Wunsch nach einem geeinigten deutschen Nationalstaat, der 1871 mit dem Deutschen Kaiserreich unter Ausschluß Österreichs Wirklichkeit wurde. Bismarck hatte nun das Amt des Reichskanzlers inne, die „Revolution von oben” war aus preußischer Sicht weitgehend gelungen.

Mehr als zwanzig Jahre zuvor war allerdings die 48er Revolution „von unten”, nicht zuletzt wegen eines noch unausgegorenen politischen Profils der beteiligten Gruppierungen, gescheitert. Der darauf folgende Aderlaß von politischen Kräften durch Verfolgung, Auswan­derung und Unterdrückung liberaler Kräfte wirkte lange Jahre nach. Langsam jedoch wuchsen neue Kräfte heran, erkennbar nicht nur im konkret politischen, sondern auch im soziokulturellen Bereich. Der Einzelne wußte sich nun in der neu entstandenen Wirklichkeit der industriell geprägten Nationalstaaten besser zu orientieren, das urbane Leben war seine Welt, die er zu lesen und zu kommentieren wußte. Die nach 1848 einsetzende Lähmung der Kultur wurde so nach und nach überwunden, der kritische Geist eines Heinrich Heine begann ebenso zu wirken wie die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels. Für die Parteien des Parlaments, auch im Deutschen Kaiserreich trotz allem noch immer ohne wirklich staatstragenden Einfluß, war jedoch weiterhin kein realpolitischer Anlaß gegeben, Kompromisse zu schließen, da sie weder mit der Exekutive noch der Regierungsbildung befaßt waren. So verstärkte sich durch diese radikalen Positionierungen auf politischer Ebene noch eine Tendenz zu einer politisch-gesellschaftlichen Hybris, in der jeder Beteiligte, jede Gruppe und jede Klasse die Wahrheit (und damit implizit die Macht) für sich beanspruchte. Diese Radikalität im Denken wurde auch im kulturellen Bereich immer deutlicher, etwa in der neuen „politischen Philosophie” eines Friedrich Nietzsche, aber auch, noch unmittelbarer und konkreter, im Theater.

Neben den wenigen Großindustriellen war es vor allem das mittlere und gehobene Bürgertum, das von der, nicht zuletzt durch staatliche Repression geschützten, innenpolitischen Sicherheit finanziell profitierte. Da aber auch die bürgerlichen Schichten nur sehr bedingt politisch tätig sein konnten, legten diese um so größeren Wert auf Bildung und Kultur. Vor allem im Bereich des Theaters konnte dem Drang nach Repräsentation Geltung verschafft werden, nicht nur durch den offen zur Schau getragenen Prunk der Gebäude, sondern auch durch Investitionen in Thea­ter­gesellschaften, die in der Zeit der Jahrhundertwende bereits wie selbstverständlich um Geldgeber warben und hohe Dividenden versprachen. In den großen Metropolen Wien und Berlin, aber zunehmend auch in der Provinz, entwickelte sich so eine bürgerliche Theaterkultur, die sich zunächst der Pflege der Klassiker, vor allem Shakespeare, Kleist, Molière und Schiller, widmete. Daneben entstand jedoch ein eher auf das kleinbürgerliche Massenpublikum hin orientierter Bereich des Theaters, der auf leichtere Unterhaltung setzte. Diese Entwicklung, ganz wesentlich begünstigt durch die seit 1869 bzw. 1871 geltende Gewerbefreiheit, ermöglichte aber auch, quasi als Unterströmung, die Herausbildung eines politisch gemeinten Theaters.

Die Entwicklung hin zu einem „naturalistischen“ Theater begann in Deutschland etwa 1880, der Durchbruch zu gesellschaftspolitischer Relevanz erfolgte aber erst durch den 1889 in Berlin gegründeten Theaterverein Freie Bühne. Es ist bezeichnend, daß hier die Form des Vereins gewählt werden mußte, um möglichst unabhängig zu sein in bezug auf die Zensur, aber auch in finanzieller Hinsicht; so aber konnten auch Dramen zur Aufführung gelangen, die auf anderen, rein kommerziellen Bühnen kaum Aus­sicht auf Erfolg haben konnten, selbst wenn sie gespielt worden wären.

In der Freien Bühne wurden die neuen, kritischen Zeitstücke gegeben, die zum Teil bis dahin polizeilich verboten waren. So wurde die Öffentlichkeit im „privaten” Rahmen mit neuen Ideen konfrontiert, die nicht mehr mittels vergangener Schlachten oder Familienfehden transportiert wurden, sondern mit realistischen Figuren, die aus der eigenen Zeit und teils aus dem eigenen Milieu stammten. Das Individuum, der an sich und der Welt leidende Mensch, stand hier im Mittelpunkt, ohne daß Verklärung oder Mystifizierung einen Ausweg wies.

Alle naturalistischen Bühnen dieser Zeit, das Théâtre libre in Paris, das Independent Theatre in London, das Moskauer Künstlertheater (Moskowski Chudoshestwenny teatr) oder eben die Freie Bühne in Berlin sahen in der Entwicklung einer wirklichkeitsnahen Aufführungsform eine ihrer Hauptaufgaben. Das Individuum war ganz auf sich und seine Welt bezogen, die Bühne ein milieugerechtes und genaues Abbild eines konkreten Lebensumfeldes, so daß folgerichtig die geschlossene Zimmerdekoration die bisherige Praxis des Kulissenwechsels ablöste. Die Stücke von Henrik Ibsen, August Strindberg und Gerhart Hauptmann ließen den einzelnen Menschen in seiner „eigenen, natürlichen” Sprache zu Wort kommen, ohne daß es zu einer direkten Kommunikation mit dem Zuschauer kam, etwa durch das zuvor so beliebte Beiseitesprechen. Das bildungsbürgerliche Publikum beobachtete durch die „vierte Wand” das Geschehen, sah in das fremde Leben ärmlichster Kleinbürgerlichkeit hinein, beispielsweise bei Familie Selicke von Arno Holz und Johannes Schlaf, wurde aber auch mit dem eigenen Milieu auf eine neue Art konfrontiert, etwa bei Ibsens Nora oder ein Puppenheim, wo offen und realistisch die Frage der Frauenemanzipation aufgezeigt wird. So versetzt dieses neue realistische Ich auf der Bühne das reale Ich im Zuschauerraum unter Umständen in die Situation, sein eigenes „Innere” als offene Projektion zu begreifen, die man nur zu lesen befähigt und bereit sein muß. Die Ausleuchtung des Seelenhintergrundes, das Nachaußenkehren der inneren Konflikte, die Entlarvung von Lebenslügen, all das vollzog sich offen und in aller Öffentlichkeit und besaß so nicht mehr nur den Charakter privaten Unglücks, sondern vielmehr eine nicht zu unterschätzende gesellschaftspolitische Brisanz.

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Wiederholung

Solange es nur die Fußballgeschichte ist, die sich wiederholt, besteht ja Hoffnung. Eine Mannschaft, die mehrheitlich aus Vizemeistern besteht, hat sich kollektiv in die Hosen gemacht. Von was ich rede? Halbfinale der Europameisterschaft im Fußball der Herren, Deutschland gegen Italien. Sich zu einfach ausspielen lassen, im Fünfmeterraum falsch zum Mann stehen, das Abseits aufheben – wer sich so etwas leistet, muß dann eben nach Hause fahren, wo jetzt immerhin wieder Ruhe ist. Auch schön. Vielleicht findet ja der ein oder andere Nationalspieler jetzt die Muße zu lesen, vielleicht sogar Italo Svevo, dessen Figuren sich zwar auch eine Menge Fehler leisten, es jedoch nie an Leidenschaft fehlen lassen, so oder so. Ich hatte jedenfalls eine schöne Zeit mit den Romanen Svevos, und wie alles Schöne läßt sich dies zwar nicht eins zu eins wieder-holen, doch neu lesen ist immer möglich. Kommt also auf den Stapel der wieder zu lesenden Bücher, neben den, in dem sich die noch ungelesenen befinden. Auf ein Neues und das Alte nochmal, so ist das Leben. 

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Der Literaturnutzwert

Literatur ist zu nichts nütze, oder wenn, dann bemerkt man das erst viel später. Sartres „Der Ekel“ hat mich zwar nicht wirklich gerettet im zarten Alter von 18 Jahren, das Gefühl aber, es sei so gewesen, kam dann Jahre danach. Die arg zerlesene Ausgabe zeigt mir heute noch, wie sehr mich der Text beschäftigt hat in einer Zeit, in der mir nichts sicher schien und ich von allerhand Ängsten und Sehnsüchten geplagt war. Warum ich mir nicht einfach Romane ausgesucht habe, die eine Erholung von den damals immensen Anstrengungen des Alltags versprachen, ist mir immer noch ein Rätsel, aber da das bis heute so ist, will ich es einfach als Fügung begreifen, diese Anziehung, die von literarischen Texten ausgeht und die dazu führt, daß ich das Lesen als Arbeit verstehe. Es muß wohl so eine Art Zauber sein, dem ich mich nicht entziehen kann – doch das hört sich schrecklicher an, als es ist. Also an die Arbeit.

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Runtergedimmt

Von Ende Juni bis Mitte September ist Pause – Sommerpause. Vom frühesten Sommerferienbeginn bis zum spätesten Ende. Die Theater und Konzerthäuser machen auch Ferien, Entscheidungsträger sind im Urlaub, selbst die Parlamente in Deutschland lösen sich für eine Weile auf. Mir hat das noch nie gefallen. Nicht etwa, daß die Menschen nicht ihre verdienten Pausen bekommen sollten, doch muß deshalb alles in die Bedeutungslosigkeit hinein runtergedimmt werden? Machen die Menschheitsprobleme auch ein verdientes Päuschen, fahren auch die Menschen in den Flüchtlingslagern dieser Welt mal für ’ne Weile ans Meer oder in die Berge? Ein wichtiges Argument für die Sommerdösigkeit ist natürlich immer dasjenige, daß nun wieder gelesenen wird, daß man endlich dazu kommt, mal wieder ein Buch zur Hand zu nehmen. Schön und gut, aber ich lese immer, also frage ich mich, was ich davon habe, wenn hier alles auf Betulich eingestellt ist. Selbst Nachrichten, die im Frühjahr, Herbst oder Winter zu Diskussionen geführt hätten, poppen einmal kurz im Kulturteil der Zeitung auf und sind wieder weg, jede Wette. Heute lese ich zum Beispiel, daß in London ein Denkmal für die Bomberbesatzungen des Zweiten Weltkriegs eingeweiht werden wird, was ja durchaus diskutabel ist und auch eine wichtige Nachricht mindestens für die Menschen, die als Kinder oder Jugendliche die Bomberpiloten bei der Arbeit erlebt haben. Der Zeitpunkt zeigt immerhin, daß die Briten genau wissen, wann in Deutschland Sommerferien sind. Wenn das kein Fortschritt ist!

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Regal der toten Dichter

In meinem Bücherregal befinden sich wesentlich mehr tote als lebendige Dichter, Autoren, Schriftsteller – wie auch immer. Alles gut abgehangen, von der Literatur der antiken Welt bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Natürlich lese ich gelegentlich auch etwas frisch Geschriebenes, oft von Autoren, die ich persönlich kenne, doch eigentlich suche ich eher die Zwiesprache mit den Verblichenen. Mit den Unverblichenen kann ich ja auch auf andere Weise kommunizieren, doch die Nähe zu einem Robert Walser ist leibhaftig nicht herzustellen, so daß ich ihn lesen muß, sozusagen zwangsläufig. Ehrlich gesagt kann ich die augenscheinlich oftmals nur aus sich selbst schöpfende, jetzige Autorengeneration nicht begreifen, obwohl ich mich mit einigen Vertretern derselben über das Thema unterhielt. Eine Autorin, die das Schreiben in Hildesheim studiert, berichtete mir staunend darüber, wie sehr viel mehr etwa diejenigen über die ganze Literatur wissen, die nach einem Studium der Literaturwissenschaft noch eines des Kreativen Schreibens obenaufsetzen. Das Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig ist immerhin so aufgebaut, daß es Seminare gibt, die die Kenntnis exemplarischer Werke vermitteln. Richtig so, obgleich das Selberlesen naturgemäß wesentlich mehr bringt als das Vermitteltbekommen. Kein Wunder also, wenn Werke aus der Mitte des 19. Jahrhunderts von vornherein als schwierig angesehen werden, obwohl die deutsche Sprache schon vor 150 Jahren eher mehr als weniger der heute gesprochenen entspricht. Dazu kommt noch, daß ja die Themen der Moderne auch schon in anderen „Modernen“ literarisch verarbeitet wurden, es ist also noch immer das selbe Menschlich-Allzumenschliche, das seit jeher von der Kunst und eben auch der Literatur aufgegriffen wurde. Warum also die wenig ausgeprägte Neugierde gegenüber der „älteren“ Literatur, warum verzichten so viele Menschen darauf, diese Schätze zu heben? Ich fürchte, es liegt einfach daran, daß das Heben von Schätzen Arbeit bedeutet, bevor es dann zu einem Abenteuer werden kann und sich schließlich in einem Bücherregal manifestiert, in dem mehr lebendige Gedanken stecken, als man jemals wird erfassen können. Also mal flugs an die Arbeit.

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Malen nach Zahlen

Die Vermessenheit der Welt nimmt Ausmaße an, die das scheinbar Unnütze und Unfaßbare, das Überflüssige und Nutzlose manchmal wie Müll aussehen läßt, manchmal aber auch wie pures Gold, eben wie über den Bedarf hinaus oder am Bedarf vorbei Produziertes, oder sogar über die Bedürfnisse hinaus oder an ihnen vorbei. Wessen Bedarf, wessen Bedürfnisse? Des Volkes, der Verbraucher? Immerhin wird alles, was überhaupt gezählt werden kann, mittels Zahlenkolonnen und Statistiken der Welt präsentiert, Glaubenssätzen gleich, nach denen der Mensch sich zu richten hat, will er nicht als Ungläubiger gelten. So hat auch die Angst vor keinem Wachstum oder gar negativem Wachstum, vor Schrumpfung, die per se als ungesund gilt, die Angst vor dem Teufel und der Hölle ersetzt. Fußte die Macht der Kirche hierzulande dazumal auf einer erzählten Figur in einem Erzählkontext, so fußt die Macht der industriellen Taktgeber heutzutage auf regelgerecht gemachten Zahlen in einem behaupteten Kontext, Wirtschaft genannt, in dessen gegenwärtigem Sein ausreichend Hölle vorhanden ist, um die notwendige Angst zu erzeugen, die der Treibstoff ist für die, die dem Gesellschafts-Körper ein ständiges Wachstum ermöglichen, selbst dann noch, wenn dieser an seinem eigenen Gewicht zu ersticken droht. Doch so lange dies alles meßbar ist, besteht kein Grund zur Panik – wer’s glaubt, ist selig, es sei denn, er ist eine Zahl auf der falschen Seite, dort wo die Überflüssigen gezählt werden, um der Hölle die ihr angemessene Anschaulichkeit zu geben. Malen nach Zahlen, sozusagen.

  

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Einmal Inversion und zurück

Die Umwertung aller Werte ist ja nicht mehr als der Versuch, gleichsam an der Decke zu laufen. Man denke da nur an Pippi Langstrumpf oder an Friedrich Nietzsche. Für Normalbürger gibt es dafür die Umkehrungsfeste, etwa den Karneval. Zu solchen Zeiten geht der Papst als Bettler und der Bettler als Papst. Ist das Fest zuende, dreht sich die Sache wieder. Auch im Alltag ist so etwas möglich – raus aus dem Anzug, rein in die Motorradkluft. Es dreht sich also ständig was, es sei denn, man ist gleichsam aus einem Guss und dabei ständig im Dienst. Soll’s ja geben. Dem Schriftsteller Robert Musil ist die philosophische Denkfigur der Inversion übrigens Grundlage des anderen Zustandes als des Gegenstücks zu den alltäglichen Weltverhältnissen. Es geht ihm um das Sich-Fühlen als nichtfixierbares Sein, denn in dem einen Moment glaubt man in sich zu ruhen, um im anderen dann außer sich zu sein und sozusagen neben sich zu stehen. Nur eine Ausrede ist es aber, wenn jemand behauptet, nicht ganz bei sich gewesen zu sein, denn so sehr man auch die Zustände wechselt, es dreht sich alles immer nur ums: Ich.

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Das allerletzte Argument

Die unvergleichliche Haptik des Buches, dieses letzte und Lieblingsargument der Verleger löse sich zusehends in Luft auf, so heißt es in dem schon gestern erwähnten Artikel von Felix Stephan. Während eines Vortrags Gunter Duecks, so berichtet Stephan, als eben die Rede auf die Haptik des Buches kam, meldete sich ein Sechzehnjähriger zu Wort und „berichtete vom Haptischsten, das er sich überhaupt vorstellen könne: dem iPad 2“. Das kann jeder nachvollziehen, der jemals Lust aus dem Haptischen zog, denn warum streicheln sonst Menschen über Motorradtanks oder Möbel oder wer weiß was? Argument also verpufft, selbst wenn es natürlich weiterhin schöne Bücher gibt, die optisch und haptisch etwas hermachen. Doch es gibt Hoffnung, es gibt ein allerletztes Argument, nämlich den Geruch der Bücher! Manchmal nehme ich die wenigen wirklich schönen und wirklich alten Bücher aus dem Regal, nur um an ihnen zu riechen, jetzt zum Beispiel Wilhelm Diltheys Das Erlebnis und die Dichtung, zehnte Auflage von 1929. Es riecht wunderbar nach Buch, und natürlich ist es auch noch richtig gedruckt, hat genau das richtige Gewicht und fühlt sich gut an. Übrigens riechen Motorräder auch ganz toll, am besten, wenn sie eben abgestellt worden sind und knackend abkühlen nach einer heißen Fahrt

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